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lesen. Es mag der Roman uns noch so lyrisch anmuten, das Drama eine noch
so >episch< breite Handlung haben, das lyrische Gedicht noch so >unlyrisch<
sein — es ist jeweils dennoch eine erzählende Dichtung, ein Drama, ein Ge
dicht, das unser Leseerlebnis lenkt und prägt. Die präsentierende Form ist die
richtunggebende, unser Erlebnis einstellende — nicht anders wie etwa ein
historisches Werk, ein naturwissenschaftliches Lehrbuch von uns anders auf
gefaßt werden als ein Roman. Wir erfahren das lyrische Gedicht in einer völlig
anderen Weise als einen Roman und ein Drama, in einer so verschiedenen, daß
wir die beiden letzteren unmittelbar nicht in demselben Sinne als Dichtung
erleben wie das lyrische Gedicht, und umgekehrt. Und schon in dieser noch
vorlogischen Betrachtung deutet sich an, daß für unser Erlebnis erzählende
und dramatische Dichtung zusammenrücken gegenüber der Lyrik, diese sich
uns auf einer ganz anderen Ebene unseres Vorstellungslebens präsentiert als
jene.
Es ist bisher in die Poetik der Gattungen, und auch in die Interpretation der
einzelnen Dichtwerke, das Faktum nicht einbezogen worden, daß erzählende
und dramatische Dichtung uns das Erlebnis der Fiktion oder der Nicht-Wirk
lichkeit vermittelt, während dies bei der lyrischen Dichtung nicht der Fall ist.
Was aber als Erlebnis vermittelt wird, hat seine Ursache in den vermittelnden
Phänomenen selbst. Die Phänomene sind die Lyrik, die Epik und die Drama
tik, aber auch jedes einzelne Exemplar jeder dieser Gattungen. Die Ursache,
daß die beiden letzteren das Erlebnis der Nichtwirklichkeit, die erstere aber
das der Wirklichkeit vermitteln, ist nichts anderes als die logische und damit
auch sprachliche Struktur, die ihnen zugrunde liegt. Die Logik der Dichtung
ist damit auch die Phänomenologie der Dichtung. Dieser Begriff ist hier weder
mit der besonderen Bedeutung der Hegelschen noch der der Husserlschen
Phänomenologie belastet. Er bezeichnet nichts als die Beschreibung der Phä
nomene selbst — doch wiederum nicht im Sinne einer deskriptiven, sondern
im Sinne einer symptomatischen Beschreibungsmethode, d. i. im Sinne der
Lehre, die, nach dem Worte Goethes, die Phänomene sind. Wenn Goethe es
ablehnte und verbot, hinter den Phänomenen zu suchen — ». .. Man suche
nur nichts hinter den Phänomenen; sie selbst sind die Lehre« (Maximen und
Reflexionen hrsg. v. G. Müller Nr. 993) —, so meinte er damit das Einlegen
eines Sinnes in sie, der aus ihnen selbst nicht zu entwickeln ist, eines meta
physischen Sinnes irgendwelcher Art, der aus den Phänomenen der Natur
eine Naturphilosophie, aus denen der Geschichte eine Geschichtsphilosophie,
macht, statt einer Wissenschaft oder, wie Goethe auch sagt, einer Theorie. Es
gibt aber eine Bedeutung, in der auch Goethe das Suchen hinter den Phäno