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auch der gültigste Beweis, daß dies Erzählen kein Vergangenheitserzählen ist,
sondern immer den Schein der Präsenz hervorbringt. Der Dialog hat so gut
wie die erlebte Rede nur in der Er-Erzählung, der reinen Fiktion, seinen autoch-
thonen Ort. Denn nur in ihr kann das Erzählen so fluktuieren, daß >Bericht<
und Dialogsystem in der Einheit der Erzählfunktion zusammenfließen. Und
es kann dies nur darum geschehen, weil auch das Erzählen schon fiktional ist
und in jedem Augenblick bereit, selbst zu den fiktiven Gestalten zu werden.
Prüfen wir aber die Funktion des Dialogs genauer, so zeigt sich, daß er in
sich selbst eine Bestätigung des >impersonalen< Funktionscharakters des epi
schen Erzählens ist, nämlich nur eine der Formen, die dieses annehmen kann.
Dies zeigt sich darin, daß das Gespräch ja keineswegs nur die Gestalten selbst
in ihrem Da- und Sosein darzustellen hat, es übernimmt auch in hohem Maße
die rein schildernde Funktion des Erzählens. Wir werden im Roman nicht nur
durch den Bericht, sondern auch durch die Gespräche über die Verhältnisse,
die äußeren Situationen und Begebenheiten, weitere Personen orientiert. Dies
aber gilt schon in so ausgedehntem Maße für den Vater der abendländischen
Epik, Homer, daß ihn Aristoteles gerade deswegen besonders gerühmt hat.
Hätte Goethe, der die Briefromane Richardsons als ein Anzeichen der Drama
tisierung der epischen Dichtung auffassen wollte, an dieser Erscheinung bei
Homer nicht ganz vorbeigesehen, hätte er möglicherweise seine Definition des
Rhapsoden modifiziert. Denn wenn der Erzähler, wie Aristoteles rühmt, so
wenig wie möglich »selbst« (avrüv . . . Sei . . . Myeiv) redet, sondern nach
kurzer Einleitung sofort einen Mann oder eine Frau auftreten läßt (Poetik,
Kap. 24) — erscheint er wirklich als der, »der das vollkommen Vergangene
vorträgt, ein weiser Mann, der in ruhiger Besonnenheit das Geschehene über
sieht« (Goethe, Dezember 1797) ? Gerade Homer selbst widerlegt, wie gesagt,
diese Definition des Erzählens qua Erzähler, die sich in mehr oder weniger ab
gewandelter Form bis in die Dichtungstheorie der heutigen Zeit erhalten hat.
Fast ganz ist in den homerischen Epen der Stoff der Erzählung aufgeteilt in
Rede und Gegenrede, Icherzählung und Selbstgespräch. Daß diese Reden nicht
wie in moderner Epik psychologisch-existentielle Darstellung seelischer
Vorgänge sind, liegt an dem Wesen der antiken Epik, wo nicht die Begeben
heiten um der Personen willen gestaltet sind (symptomatisch oder gar symbo
lisch), sondern diese umgekehrt die Funktion haben, Träger der Begebenheiten,
Glieder eines bewegten Weltzustandes zu sein. Aber nicht dies ist für unsere
Zusammenhänge das Wesentliche. Worauf es ankommt, ist die Erkenntnis,
die der Begründer der abendländischen Epik vermittelt, daß die Aufteilung
auch des Geschehensstoffes an die redenden Personen und den >Erzähler< eben