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erlebtes Bühnenwerk vom Zuschauer aufgenommen wurde 132 , als eine andere
ästhetische (oder fiktive) Realität, die von der seinigen abgetrennt war: in der
Renaissance und — in völliger Ausbildung erst — im Barock. Die klassische
Einheitenproblematik — mochte sie immer an die problematische Aristoteles
stelle über den Sonnenumlauf anknüpfen — ist im Faktum der Rahmenbühne
fundiert, und zwar als Problem des Verhältnisses der raumzeitlichen Wirklich
keit des >Parterres< zu der freilich fiktiven, aber gleichfalls >echten< raumzeit
lichen Wirklichkeit der Bühne, die ja sowohl als abgetrennt wie aber doch
auch im physisch-physikalischen Sinne als zugehörig zum Zuschauerraum er
lebt und im Laufe der theatergeschichtlichen Entwicklung behandelt wurde 133 .
Die klassische Diskussion sei hier nur deshalb kurz in die Erinnerung ge
rufen, weil gerade in den Denkfehlern, die sie barg, die mimetische Form nicht
nur der dramatischen Dichtung sondern auch der Bühnenwirklichkeit ans
Licht tritt. Es handelte sich bekanntlich um die Angleichung der fiktiven Zeit
dauer der Handlung an die reale Zeitdauer ihrer Aufführung, die für die fünf-
aktigen Dramen der französischen Klassik zwei Stunden betrug. Als Ideal
stellt etwa Corneille, in seinem »Discours sur les trois unités« das Zusammen
fallen dieser beiden Zeiten auf; und die keineswegs deutlich zum Ausdruck
gebrachte Voraussetzung dafür war, daß der Zuschauer die Wirklichkeit und
damit die Gegenwärtigkeit seiner Anwesenheit im Theater auf diejenige der
sich vor ihm abspielenden Handlung und agierenden Schaupieler übertrage,
daß vor allem diese selbst in dieser Wirklichkeit ständen. Gerade aber in der
noch als möglich zugegebenen, als >wahrscheinlich< erlebbaren Differenz dieser
Zeiten, die Corneille in diese Argumentation aufnimmt, tritt der erkenntnis
theoretische Fehler hervor. Wenn die Handlung nicht in zwei Stunden gepreßt
werden kann, »sie nous ne pouvons pas la renfermer dans ces deux heures,
prenons en quatre, six, dix; mais ne passons pas de beaucoup les vingt-quatre
heures de peur de tomber dans le dérèglement, et de réduire tellement le por
trait en petit qu’il n’ait plus ses dimensions proportionnées et ne soit qu’imper-
fection.« 134
Es wurde nicht bemerkt, daß auch eine verhältnismäßig kleine Differenz
132 Sowohl im antiken Drama wie im mittelalterlichen Mysterienspiel empfand sich, wie
D. Frey zeigt, die Zuhörerschaft als Mitspieler der Handlung, in der Antike repräsentiert
durch den Chor, im Mittelalter als Teilnehmer an den Prozessionen. Damit hängt es natur
gemäß zusammen, daß »Raum und Zeit des Zuschauers unmittelbar dem fiktiven Raum und
der fiktiven Zeit des dramatischen Vorgangs gleichgesetzt waren« (a. a. O., S. 213) und das
Problem der Zeit- und Ortseinheit nicht entstand.
133 Vgl. dazu D. Frey, Zuschauer und Bühne (in: Kunstwissenschaftliche Grundfragen,
Wien 1946)
134 P. Corneille, Oeuvres complètes, Paris 1963 (Ed. du Seuil), S. 844.