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klassische Theorie auch heute noch weniger überwunden als man meinen sollte.
Sie hat sich in der modernen Dramenpoetik in der Form der Theorie erhalten,
daß die Zeit des Dramas die Gegenwart sei 137 . Die Gegenwartstheorie entspricht
der auf die Epik bezogenen Vergangenheitstheorie, und zwar mit mehr Recht,
wenn auch aus anderen Gründen, als es vielleicht diese Theorie selbst absah.
In der Tat entspricht die Theaterbühne nichts anderem als dem Präteritum der
Erzählung. Nicht die dramatische Form des Dialogs als solche, sondern das
Phänomen des aufgeführten Stückes ist die Ursache der Auffassung, daß »die
Handlung als gegenwärtig dargestellt ist« 138 , »das Drama eine in sich abge
schlossene Handlung ... in unmittelbarer Gegenwärtigkeit darstellt« 139 ,
»takes place in a perpetual present time. On the Stage it is always now« 140 ,
(— um aus der Fülle der gleichlautenden Bestimmungen aufs Geratewohl einige
auszuwählen). Diese Bestimmungen kopieren so getreulich den Schein des
Zuschauererlebnisses, daß sie der ausdrücklichen Formulierung kaum bedurft
hätten. Sie erweisen sich aber als problematisch, ja sogar fehlerhaft, wenn man
prüft, ob diese Bestimmung der dramatischen Gegenwart sich wirklich als ein
temporales Erlebnis anderer Art als das der erzählten Handlung erweist. Wenn
im zweiten Akt von Ibsens »Rosmersholm« Rebekka West zu Rosmer sagt:
»Gestern abend, wie Ulrik Brendel ging — da habe ich ihm zwei bis drei Zeilen
an Mortensgärd mitgegeben«, so hat der Zuschauer dieses Gestern vor wenigen
Minuten seiner Zeit, im ersten Akt, erlebt, als Brendel mit Rebekka die Bühne
verläßt; und daß sie ihm >dann<, in der (verdeckten) dramatischen Handlung
(aber nicht etwa hinter der Bühne) einen Brief an Mortensgärd mitgegeben
hat, erfahren wir erst durch ihre Worte. Dies zwar wahrgenommene, aber fik
tive Gestern erleben wir dennoch auf keine andere Weise als das vorgestellte
Gestern unseres Fontanetextes: »Die Szenerie war wie gestern«, das wir
gleichfalls vor wenigen Minuten unserer eigenen Zeit erlebt haben, wenn auch
in diesem Falle unserer Lese- und nicht unserer Schauzeit. Umgekehrt erleben
wir die >heutige< Szenerie des Treibelschen Zimmers, die Szene selbst, wie der
137 Von Theoretikern, die die Gegenwart für die Lyrik reservierten, wurde für das Drama
das Tempus der Zukunft in Anspruch genommen, so von Jean Paul: »das Drama (stellt) die
Handlung, welche sich für und gegen die Zukunft ausdehnt . . . dar« (Vorschule d. Ästh.
§ 75), und in neuester Zeit von S. Langer: »As literature creates a virtual past, drama creates
a virtual future (Feeling and Form, S. 306f.). Mit Recht ironisieren Wellek and Warren (The
Theory of Literature, New York 1949, S. 237 f.) ein wenig diese und andere Zeitmetaphysiken
der Literaturtheorie, mit Hilfe der Tempora die Hauptgattungen zu bestimmen, tragen aber
selbst nichts zur Lösung der Frage bei.
138 Goethe an Schiller, 2. XII. 1797
139 Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, III, a. a. O., S. 479
140 Th. Wilder, The Intent of the Artist, S. 83 (zit. nach Langer, a. a. O., S. 307)