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schiedenartigen Bemühungen und Methoden der Bühnenkunst, die Realität
der Bretter vergessen zu machen zugunsten der fiktiven Welt, die sie >bedeu-
ten<. Denn es liegt natürlich an der besonderen Art, in der die szenische Ver
körperung die epische Erzählfunktion ersetzen muß, es liegt an den physischen
Bedingungen dieser Verkörperung, daß die Fiktion des dramatischen Spiels
den Schein einer Wirklichkeit, die der des Zuschauers analog ist, immer anzu
nehmen die Tendenz und die Möglichkeiten hat.
Diese Möglichkeiten wurden vom Theater der verschiedenen Epochen je
nach Auffassung, technischem Vermögen, Mode- und Geschmacksrichtung
verschieden verwertet und eingeschätzt. Die spezifisch dekorative Bühnen
kunst, die Illusionsbühne, die mit den Kulissen, Perspektiven, Donnermaschi
nen usw. des höfischen Barocktheaters begann und eine immer genauere Imi
tation der Wirklichkeit erstrebte, ist als ein Anzeichen dafür aufzufassen, daß
man der nun einmal wahrnehmbar gemachten Fiktion auch den größtmög
lichen Schein, die Illusion der wahrnehmbaren Wirklichkeit geben wollte.
Die Kunstauffassung, die hier als leitend zugrunde liegend gedacht werden
muß, im allgemeinen ja auch noch im heutigen Theater, geht darauf aus, die
bloß fiktive Präsenz zugunsten der realen, die bloß bedeutenden Bretter
zugunsten der wirklichen vergessen zu lassen — zu welchem Zwecke diese
eben, wie die Schauspieler selbst, kostümiert werden muß. Das erkenntnis
theoretisch gedeutet umgekehrte Verfahren liegt den Bestrebungen moderner
Regisseure zugrunde: die imitierte Scheinwirklichkeit der Bühne weitmöglichst
zu reduzieren, die Bühne dadurch, daß man sie >unscheinbar< macht, verges
sen zu lassen zugunsten der rein fiktiven Welt des Stückes, deren >Gegenwart<
nicht mit der Bühnengegenwart verwechseln zu lassen. Es ist der Gedanke
dieser Bühnenkunst, die dramatische Dichtung möglichst von den sinnlichen
Begleiterscheinungen ihrer szenischen Verkörperung zu befreien, d. h. die
Versinnbildlichung, die das Wesen aller Kunst ist, so wenig wie möglich durch
Versinnlichung zu stören und zu beschränken 142 .
142 Rückläufige Vergleiche zwischen der modernen abstrakten Bühne und der nackten
kleinen Shakespearebühne sind möglich. Eine kritische Äußerung eines elisabethanischen
Poetikers, Philip Sidney: »Nun kommen drei Damen, die Blumen pflücken, und wir müssen
uns die Bühne als Garten denken; dann hören wir an demselben Platze von einem Schiff bruch,
und es ist unser Fehler, wenn wir nicht eine Klippe sehen .. .« (The Defence of Poesie, 1595,
ed. E. Flügel 1889, S. 102, zit. nach D. Frey, Gotik, a. a. O., S. 194) beleuchtet das Problem der
bloß »bedeutenden« und der wirklichkeitsillusionierenden Bühne. Sidney, schon auf die bild
haft-gegenständliche Sehweise der Renaissance eingestellt, »macht sich« über die im 16. Jahr
hundert »noch lebendige mittelalterliche Tradition der Shakespearebühne lustig«. Diese
aber war darin geübt, das bloß Bedeutende, Symbolische des Spielplans zu apperzipieren und
z. B. auf ihm zwar anwesende, aber nicht als anwesend gemeinte Schauspieler als nicht vor