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haben, sondern sehr aufmerksam sein müssen auf die verschiedene Funktion,
die es einerseits in der fiktionalen Gattung, anderseits in der lyrischen hat.
Sehen wir jetzt aber sogar ab von den rein logischen Funktionen, wie sie im
fiktionalen Erzählen im Unterschied zur Aussage wirksam sind, so ist auch dann
noch die Funktion des Wortes als solchen in der fiktionalen Gattung eine andere
als in der lyrischen. Hat es in der Lyrik seine unmittelbare Funktion, dieselbe
wie in jeder außerdichterischen Aussage auch, so hat es in der fiktionalen
Gattung eine vermittelnde. Es hat dort keinen sinnhaften und damit ästheti
schen Eigenwert, sondern es steht im Dienste einer anderen Kunsttendenz,
im Dienste der Gestaltung: der Gestaltung einer fiktiven, einer Scheinwelt,
einer Mimesis. Nur in der fiktionalen, aber nicht in der lyrischen Gattung ist
das Wort Material im eigentlichen Sinne des Wortes. Es ist dort Material wie
die Farbe das Material der Malerei, der Stein das der Plastik. Im lyrischen
Gedicht aber ist das Wort ebensowenig Material wie es dies in der nichtlyri
schen Aussage ist. Es dient keinem anderen Zwecke als der Aussage selbst, es
ist mit ihr identisch, ist unvermittelt und unmittelbar. Es ist das unmittelbare
lyrische Ich, dem wir im lyrischen Gedicht begegnen.
Die Beschaffenheit des lyrischen Ich
Unsere bisherigen Darlegungen über die lyrische Subjekt-Objekt-Struktur
lassen weitere Erörterungen über das lyrische Ich oder Aussagesubjekt über
flüssig erscheinen. Doch angesichts der unendlichen Vielfalt der lyrischen
Erscheinungsformen ist es mit dem generellen aussagentheoretischen Nach
weis nicht getan, daß das lyrische Ich ein echtes, ein reales Aussagesubjekt ist.
Denn eben weil die lyrische Wirklichkeitsaussage keine Funktion in einem
Wirküchkeitszusammenhang haben will, stellt sich das lyrische Aussagesubjekt
als ein Problem, das denn auch nicht zufällig von der Literaturtheorie diskutiert
und umstritten worden ist. Umstritten, und auch von unserer Strukturanalyse
der lyrischen Aussage noch nicht beantwortet, ist die Frage der Identität oder
Nichtidentität des lyrischen Ich mit dem Ich des Dichters. Entgegengesetzte
Auffassungen machten sich geltend. Während die ältere >naivere< Literatur
geschichte keinen Anstand nahm, das lyrische Ich mit dem Dichter zu identifi
zieren und sich freute, wenn sie das Mädchen entdeckte, dem ein Liebesgedicht
galt, so ist man heutzutage oft ängstlich darauf bedacht, jede Verbindung
zwischen dem Ich des Gedichtes und dem des Dichters abzuriegeln. »Da glau
ben die Leser, >ich< sei Goethe und >du< sei Friederike — Biographismus!«
ruft zugleich empört und belustigt der feine Goethe-Interpret Paul Stöcklein