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von diesen und den anderen Friederike-, Lili- und Charlottegedichten lösen.
Im »>Gemalten Band<, im >Mailied< ist«, so sagt der Gründer der Struktur-
Stilistik Emil Staiger unbefangen wie Rahel einst, »Friederike zugegen. Goethe
ist durchdrungen von ihr, wie ihn seinerseits das Gefühl beglückt, daß sie von
ihm durchdrungen ist.« 182
Was ist angesichts dieser diametral einander entgegengesetzten Auffassungen
über das lyrische Ich zu sagen, die sich keineswegs (wie Rahel Varnhagens und
Staigers übereinstimmende Äußerungen zeigen) durch die Epochen, etwa die
fortgeschrittenen literaturwissenschaftlichen Forschungsmethoden erklären
lassen. Zunächst haben wir, von unserer dichtungslogischen Sicht her, die
Antwort zu geben, daß es ein ebenso unerlaubter Biographismus ist zu sagen,
dieses Ich sei nicht Goethe, dieses Du nicht Friederike wie, daß dieses Ich
Goethe und dieses Du Friederike sei. Dies aber bedeutet nichts anderes, als daß
es kein exaktes, weder logisches noch ästhetisches, weder ein internes noch
ein externes Kriterium gibt, das uns darüber Aufschluß gäbe, ob wir das Aus
sagesubjekt des lyrischen Gedichtes mit dem Dichter identifizieren können
oder nicht. Wir haben weder die Möglichkeit und damit das Recht zu behaup
ten, daß der Dichter die Aussage des Gedichtes — gleichgültig, ob diese in der
Ichform erfolgt oder nicht — als die seines Erlebens gemeint habe, noch zu
behaupten, daß er nicht «ich selbstt meine 162 163 . Dies können wir genausowenig
entscheiden wie bei jeder anderen, nichtdichterischen Aussage auch. Die Form
des Gedichtes ist die der Aussage, und dies bedeutet, daß wir sie als das Erleb
nisfeld des Aussagesubjekts erleben — gerade das, was sie uns als Wirklich
keitsaussage erlebbar macht.
Wie kommen diese Verhältnisse zustande, wie erklären sie sich ? Macht sich
hier nicht ein Widerspruch geltend zu dem Nachweis oder besser unserer
Interpretation der lyrischen Subjekt-Objekt-Relation, daß die lyrische Aus
sage keine Funktion in einem Wirklichkeitszusammenhang hat? Ist nicht damit
angezeigt, daß auch das Aussagesubjekt ebensowenig als ein >wirkliches< be
trachtet sein will wie es seine Aussage nicht als wirklichkeitsbezogen, d. h.
als objektgerichtet gedeutet wissen will? Hier aber tritt nun das logische Phä
nomen auf, das dem lyrischen Ich sozusagen diese Freiheit verbietet. Denn es
162 E. Staiger, Goethe, I, Zürich 1952, S. 56
163 Es dürfte aus meinen Darlegungen deutlich genug hervorgehen, daß diese Äußerungen
Rahels, Staigers und Stöckleins nur als Belege für die Unbestimmbarkeit des lyrischen Ich
bzw. seiner Identität mit dem Dichter-Ich angeführt sind, d. h. ausschließlich aus Gründen
der sprachtheoretischen Bestimmung des lyrischen Gebildes. Es kommt dabei nicht darauf
an, ob diese Äußerungen »hysterical« und »highflown« sind, wie Wellek, sie nochmals zitie
rend und ihre Funktion für meine Nachweise mißverstehend, tadelt (a. a. O., S. 394).