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seinem spezifischen Sinne die menschliche Gestalt. Im Gebiete der Kunst wird
sie gebildet einerseits von der bildenden Kunst, anderseits von der fiktionalen
Dichtung. Tritt sie als Kunstgebilde im Raume der Lyrik auf, entsteht ein
einzigartiges Phänomen im Gesamtsystem der Kunst, das Bildgedicht, mit dem
wir uns nun zuerst beschäftigen und es in seinem Verhältnis zur Ballade unter
suchen wollen.
Ein Bildgedicht, hervorgegangen aus dem antiken Epigramm, beschreibt ein
Gemälde oder eine Skulptur. Und aus der wertvollen Untersuchung Hellmut
Rosenfelds über »Das deutsche Bildgedicht« geht hervor, daß die Fälle selten
sind, wo ein Bildgedicht andere als figürliche Gemälde zum Gegenstände hat 169 .
(Bei Skulpturgedichten fällt die Alternative überhaupt fort.) Für den Ort im
lyrischen Raum, auf den es in unserem Zusammenhang ankommt, sind jeden
falls die. Figurengedichte wesentlich, als welche sie, wie gesagt, einen einzig
artigen Punkt im System der Dichtung bedeuten, einen Punkt, in dem sich
Linien von der Lyrik und von beiden Formen der fiktionalen Gattung treffen,
und zwar so, daß der Ort des Bildgedichts im lyrischen Raum äußerst empfind
lich ist, die Struktur des Gedichtes durch geringe Verschiebungen der Haltung
des lyrischen Ichs verändert werden kann. Denn die von der bildenden Kunst
geschaffene menschliche Gestalt kann ebensowohl bloß toter, wie auch immer
ästhetisch erlebter, als auch ein menschlich beseelter Gegenstand der Betrach
tung sein. Und wenn wir nun an einigen Beispielen die Haltung verfolgen, die
das lyrische Ich des Bildgedichtes einnehmen kann, wird sich von diesem recht
versteckten Ort her sowohl im DichtungsSystem wie in der Dichtungsge
schichte wiederum zeigen, daß die logische Struktur des ersteren durch nichts
anderes bedingt ist als die menschliche Gestalt, d. h. die künstlerische Gestal
tung des Objektes, das zugleich als ein Subjekt gestaltet werden kann.
Ich wähle aus der Fülle der Bildgedichte, die die deutsche Literatur aufweist,
zunächst ein Skulpturengedicht Herders und ein Gemäldegedicht Rilkes aus. —
Eins der sogenannten Bildepigramme 170 , die Herder an antike Traditionen
anknüpfend verfaßt hat, beschreibt eine hellenistische Gruppe:
Amor und Psyche
Die Hand, die dieses holde Haupt berührt
Und still hinab es zum Geliebten führt,
Der leise Hauch, der um die Lippen schwebt
Und sanft den Arm und sanft den Busen hebt —
169 H. Rosenfeld, Das deutsche Bildgedicht, Tübingen 1935, passim
170 Ebd., S. 122 u. 124 ff., wo die Entstehung des griechischen Bildepigramms dargelegt
wird.