Full text: Die Logik der Dichtung

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Stellung ist. Das heißt also: das Ich der Ich-Erzählung ist ein echtes Aussage 
subjekt. Wir können dieses Ich dadurch noch genauer bestimmen, daß wir es 
mit gleicher Präzision von dem lyrischen Ich unterscheiden können wie das 
historisch-theoretische oder praktische Aussagesubjekt. Auch das Ich der Ich- 
Erzählung will kein lyrisches Ich sein, sondern ein historisches, und es nimmt 
denn ja auch nicht die Formen der lyrischen Aussage an. Es erzählt Selbst 
erlebtes, aber nicht mit der Tendenz, dies als nur subjektiv Wahres, als sein 
Erlebnisfeld im prägnanten Sinne dieses Phänomens darzustellen, sondern es 
ist wie jedes historische Ich auf die objektive Wahrheit des Erzählten ausge 
richtet. Und wenn wir gerade diese Behauptung mit einem Blick etwa auf den 
»Werther« oder andere stark gefühlsgefärbte, subjektiven Stimmungen Aus 
druck gebende Ich-Romane (inbegriffen Briefromane) in Frage stellen, so ist 
darauf zu entgegnen, daß die gleiche Skala mehr oder weniger subjektiver und 
vice versa objektiver autobiographischer Berichte auch die >echte< autobio 
graphische Aussage (als Sonderfall jeder Aussage überhaupt, bei der, wie ge 
zeigt, dieselben Verhältnisse vorliegen) charakterisiert. 
In der Tat ist es der hier sich ungesucht einstellende Begriff der >echten< 
Wirklichkeitsaussage, der zu der spezifischen Dichtungsart hinleitet, die die 
Ich-Erzählung darstellt. Sein Gegensatz ist die unechte Wirklichkeitsaussage, 
die gleichbedeutend mit der fingierten Wirklichkeitsaussage ist. Der Begriff des 
Fingierten, der auch für das Rollengedicht wesensbestimmend ist, bezeichnet 
die Stelle des Dichtungssystems, an dem die Ich-Erzählung ihren logischen 
Ort hat. Um zu erkennen, wie diese Stelle aussieht, muß hier nochmals auf den 
oben (S. 53 f.) dargelegten kategorialen Unterschied zwischen den Begriffen 
>fingiert< und fiktivx aufmerksam gemacht werden. Der Begriff des Fingierten 
bedeutet ein Vorgegebenes, Uneigentliches, Imitiertes, Unechtes, der des Fik 
tiven dagegen die Seinsweise dessen, was nicht wirklich ist: der Illusion, des 
Scheins, des Traums, des Spiels. Das spielende Kind kann zwar einen Erwach 
senen fingieren, aber indem es spielt und nicht täuschenderweise vorgibt ein 
Erwachsener zu sein, spielt es die fiktive Rolle eines Erwachsenen, wie der 
Schauspieler, der die Dichtungsgestalt, die er verkörpert, nicht fingiert, son 
dern sie als eine fiktive darstellt. Die Setzung der Fiktion ist eine völlig andere 
Bewußtseinshaltung als die des Fingiertseins. Diesem Unterschied gehorcht 
auch die Sprache, wenn sie die verschiedenen Formen der Dichtung hervor 
bringt. Sie arbeitet anders in der Hervorbringung der epischen Fiktion als in 
der einer Ich-Erzählung. 
Denn angewandt auf diese erschließt der Begriff des Fingierten das vielfach 
wechselnde Erlebnisphänomen, das uns verschiedene Ich-Erzählungen ver-
	        
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