Full text: Die Logik der Dichtung

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mittein. Dies ist der erste Unterschied, den wir in einem Vergleich der Ich-Form 
mit der Er-Form, d. i. der Fiktionsform von Romanen bemerken. Eine Er- 
Erzählung, gleichgültig ob in alter epischer oder moderner Romanform, er 
weckt immer das gleiche Erlebnis der Nicht-Wirklichkeit mit allen Phäno 
menen, die oben eingehend beschrieben sind. Es gibt keinen Gradunterschied 
stärkerer oder schwächerer Fiktivität. Und es wurde gezeigt, daß nicht etwa 
die fingierende Einmischung des Erzählers als Verfasserperson, zu meist humo 
ristischen Zwecken, das Fiktionsphänomen beeinträchtigt. Der »Komet« 
Jean Pauls wird nicht weniger als Fiktion erlebt als Fontanes »Frau Jenny 
Treibei«, als jede fiktionale Erzählung überhaupt. Der »Simplizissimus« aber 
scheint uns, um dies zunächst im Sinne eines allgemein gefühlsmäßigen Ein 
drucks zu sagen, erlebnisnäher, wirklichkeitserlebter als etwa Thomas Manns 
»Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull«, »Der Grüne Heinrich« als eine 
>echtere< Autobiographie als der »Nachsommer«, während wir den Grad der 
Fingiertheit des utopischen Ich-Romans Werfels »Der Stern der Ungeborenen« 
aus naheliegenden Gründen ebensowenig zu diskutieren brauchen wie den des 
Ich, das als »Tristram Shandy« mit seiner Ungeborenheit spielt. Worauf es hier 
ankommt, ist die Gradskala, auf der, wenn man sich die Mühe machte, die Ich- 
Erzählungen der Weltliteratur angeordnet werden könnten. Eine Skala von 
Fingiertheitsgraden, was nun bedeutet, daß der Grad der Fingiertheit so gering 
sein kann, daß nicht mit Sicherheit zu unterscheiden ist, ob wir es mit einer 
echten Autobiographie oder einem schon romanhaften Gebilde zu tun haben. 
Ein solcher Fall liegt vor in der berühmten aus der Zeit um 2000 v. Chr. stam 
menden ägyptischen Ich-Erzählung in Versen »Das Leben Sinuhes«, der wahr 
scheinlich eine historische Person, ein hoher Würdenträger gewesen war. 
Dennoch besteht nach G. Misch die Auffassung einiger moderner Historiker 
nicht zu Recht, daß es sich hier um ein echtes Memoirenwerk handele 181 . Für 
die Erkenntnis der Logik und Phänomenologie der Ich-Erzählung ist gerade 
ein Zweifelsfall wie dieser aufschlußreich, weil das antike Dokument so hohen 
Alters uns keine Handhabe gibt, seine autobiographische Echtheit oder Un 
echtheit einwandfrei festzustellen. Der logische Ort der Wirklichkeitsaussage 
ist also durch den Begriff der fingierten Wirklichkeitsaussage bestimmt, der sie 
einerseits von der Fiktion, anderseits aber auch von der Lyrik unterscheidet. 
Damit ist zunächst nur das Phänomen beschrieben, das uns die Ich-Erzählung 
bietet, und es gilt nun, dies Phänomen als notwendiges Symptom sichtbar zu 
machen. 
181 G. Misch, Geschichte der Autobiographie, Bd. I, Göttingen 1949, S. 51
	        
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