Full text: Die Logik der Dichtung

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benen Menschen nur durch diesen, von dessen >Zwergperspektive< her weiß: 
nämlich gerade in der Verzerrung, die die Sicht >von untern zuwegebringt, so 
daß das menschlich Hohe sich als entstellt, verzerrt, erniedrigt darstellt, mit der 
offengelassenen Frage, ob und inwieweit diese Sicht von unten vielleicht die 
richtige ist. In diesen Roman ist die Ich-Perspektive also bewußt als Sinnmo 
ment eingebaut, und die genauere Analyse des Werkes zeigt, wie sorgfältig die 
Formen der Ich-Erzählung dieser Perspektive angepaßt sind, nämlich der Form 
der Aussage, in die die fiktionalen Erzählformen nicht eingehen können, nicht 
nur die erlebte Rede nicht, sondern auch derDialog. 
Der Briefroman 
Damit sind wir an den Punkt geführt worden, die eigentliche Problematik 
des Ich-Romans als Roman ins Auge fassen zu können, d. h. zu untersuchen, 
wie seine dichtungslogisch paradoxe Situation einer Aussagestruktur im episch- 
fiktionalen Gebiet zustandekommt. Die der Ballade invers entgegengesetzte 
Situation wird dann erkennbar. Wir gehen dabei von einer besonderen Form 
des Ich-Romans, dem Briefroman, aus, an dem wir den Prozeß, der sich hier 
abspielt, zunächst am deutlichsten beobachten können. Er stellt diejenige Form 
des Ich-Romans dar, die am wenigsten als epische Form anmutet. Und wir 
können unter diesen Gesichtspunkten auch den Tagebuchroman unter diese 
Form ordnen, der sich eben formal kaum vom Briefroman unterscheidet. Im 
Wesen des Brief- und Tagebuchromans ist es gelegen, daß in ihnen ein jeweils 
begrenztes Stück äußerer und innerer Wirklichkeit geschildert wird, derart, 
daß die Versuchung, der die kontinuierlich ausgedehnte Ich-Erzählung immer 
unterliegt, die Versuchung zur Überschreitung der durch die Aussageform ge 
setzten Grenze ins fiktional Epische, für ihn kaum besteht. Der Brief sieht je 
weils auf eine kurz vergangene Zeit, ein begrenztes Stück Welt und Geschehen 
zurück, und Wiedergabe etwa von Dialogen, die >gestern< oder >neulich< geführt 
wurden, überschreitet nicht die Möglichkeit dieser Wirklichkeitsaussage. Hier 
sei, als auf einen besonders deutlich hervortretenden Zug des Brief- und 
Tagebuchromans darauf aufmerksam gemacht, daß das Präteritum des Ich- 
Romans kein episches Präteritum ist, sondern ein echtes, existentielles, grammati 
sches, das den wie immer fingierten Ort des Schreibers in der Zeit angibt. Der 
Grad der Fingiertheit des Ich-Erzählens überträgt sich naturgemäß auf die 
Zeit, und wie relativ gering der Grad der Fingiertheit eines Ich-Romans sein 
kann, tritt fast rührend in den Datierungen des »Werther« hervor: am 4. Mai
	        
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