56
die filmische. Fragen wir aber, wodurch hier und nur hier der Schein, die Ais-
Struktur der Wirklichkeit erzeugt wird, so lautet die Antwort: dadurch daß
der Schein des Lebens erzeugt wird. Und der Schein des Lebens wird in der
Kunst allein durch die Person als einer lebenden, denkenden, fühlenden,
sprechenden Ichperson erzeugt. Roman- und Dramenfiguren sind fiktive Per
sonen deshalb, weil sie als fiktive Ichpersonen oder Subjekte gestaltet sind.
Von allen Materialien der Künste aber kann allein die Sprache den Schein des
Lebens, d. i. lebender, fühlender, denkender, redender, auch schweigender
Personen hervorbringen. Und daß ihr Verfahren in der erzählenden Dichtung
sehr viel komplizierter ist als in der dramatischen, zeigt die Struktur des epi
schen Erzählens, das wir deshalb das fiktionale nennen und im folgenden
beschreiben.
Die epische Fiktion (oder die Er-Erzählung)
Das fiktionale Erzählen und seine Symptome
Es hat seine sprachtheoretischen Gründe, daß wir die Beschreibung des
Dichtungssystems mit der Er-Erzählung, d. i. der epischen Fiktion beginnen.
Mit dieser Definition, der Gleichsetzung von epischer Fiktion und Er-Erzäh
lung, ist nicht das Gesamt der erzählenden Dichtung erfaßt, zu der auch die
Ich-Erzählung gehört. Daß diese aber keine Fiktion in dem von uns definierten
und, wie wir glauben, exakten sprach- und literaturtheoretischen Sinne ist,
wird gezeigt werden. Denn der Begriff Fiktion ist nicht, wie aus dem vorigen
Abschnitt hervorgeht, durch den des Erfundenen erfüllt, derart daß ein er
fundener, und insofern >fiktiver<, Ich-Erzähler dem Begriff der Fiktion schon
genügte. Und es ist denn auch nicht die Erzählstruktur der ich-erzählenden,
sondern allein der er-erzählenden Dichtung, das im genauen Sinne fiktionale
Erzählen, an dem die sprachtheoretische Beschreibung der Dichtung überhaupt
ansetzen kann. Denn es ist das fiktionale Erzählen, das im System der Dichtung
und der Sprache eine entscheidende Stellung einnimmt, als die Grenzscheide,
die die fiktionale oder mimetische Gattung — die epische Fiktion und in ihrem
Gefolge die dramatische — vom Aussagesystem der Sprache trennt. Die Struk
tur des fiktionalen Erzählens kann daher nur in ständigem Vergleich mit der
Aussage herausgearbeitet werden, die als eine Subjekt-Objekt-Struktur oben
in ihren Grundzügen dargelegt wurde. — Mit Hinsicht auf die erste Auflage
dieses Buches sei hier bemerkt, daß der dort noch verwandte Begriff histori