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Der Entwurf dieses Phantasiebildes, das vor den Leser hingestellt wird,
ist eine Wirklichkeitsaussage, auch wenn ihr Inhalt ausdrücklich als Phan
tasie kenntlich gemacht ist. Denn sie ist bezogen auf das «redende Subjekt<,
wird als sein Phantasiegebilde dargestellt, als ein nicht ganz unwirkliches
überdies, da es in einer für den Erzähler bestimmten vergangenen Epoche
lokalisiert ist. Die durch die Anwesenheit der erzählenden Ich-Origo ge
kennzeichnete Phantasieaussage setzt sich auch noch fort, als nun die Ge
stalten, die die kommenden Romanheldinnen sein werden, die beiden Töch
ter Heinrichs des Wittingshausers, vorgeführt werden. Denn sie >treten noch
nicht auf<, sie werden vorgeführt wie, ja als zu dem Bilde gehörige Staffage
figuren :
... die Türen fliegen auf — gefällt dir das holde Paar? . . . Die jüngere sitzt am Fenster
und stickt.. . Die ältere ist noch nicht angezogen . . .
Auch das Präsens dieser Beschreibung ist kein historisches Präsens, das
ein Imperfekt ersetzt, und zwar obwohl wir uns in der vom Erzähler eigens
so bezeichneten historischen Vergangenheit befinden. Aber nicht darauf
kommt es an, sondern auf die immer noch anwesende Ich-Origo des Er
zählers, der in seiner sich in eine bestimmte Vergangenheit zurückversetzen
den Phantasie die Örtlichkeit mit den Mädchen immer noch wie ein Bild vor
Augen hat und vor den Lesern hinstellt, in einem Präsens, das man denn auch
als tabularisches bezeichnet 66 67 . Und erst als die stummen Bilder der Mädchen
zu lebendigen Gestalten — handelnden Menschen, wie Aristoteles gesagt hat—
werden, setzt, dem Dichter unbewußt, vom Leser unbemerkt, das Imper
fekt ein:
Die am Fenster stickt emsig fort und sieht nur manchmal auf die Schwester. Diese hat
mit einmal ihr Suchen eingestellt und ihre Harfe ergriffen, aus der schon seit längerer Zeit
einzelne Töne wie träumend fallen, die nicht Zusammenhängen, oder Inselspitzen einer
untergesunkenen Melodie sind. Plötzlich sagtet die jüngere: . . .
Von diesem »sagte« an geht die Erzählung im Präteritum weiter, und
das bedeutet in diesem Kontexte, daß erst mit ihm wir den Raum der Fiktion
66 Das Präsens tabulare ist beschrieben in Brugmann-Delbrück, Vergleichende Grammatik
der indogermanischen Sprachen, IV, 2 (1897) als sich nahe mit dem historischen Präsens be
rührend : »Auch hier steht das Ereignis der Vergangenheit wie ein Bild vor dem Sprechenden,
und von dem Zeitverhältnis wird abgesehen. Das praesens tabulare kam erst durch bilder
schriftliche oder buchstabenschriftliche Darstellung des Vorgestellten und Gesprochenen
auf.« (S. 736)
67 Von mir hervorgehoben.