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der Fiktion eine reale Ich-Origo durch fiktive Ich-Origines ersetzt ist und
die Imperfektform von Wendungen wie »Wie herrlich war dieser blaue
Himmel« oder »Sollte er sich so geirrt haben« das fiktive Jetzt und Hier der
dieses denkenden Personen nicht beeinträchtigt.
Die erlebte Rede, die, wenn auch heute in jedem Zeitungsroman ange
wandt, auf dem Wege der Romanentwicklung das kunstvollste Mittel der
Fiktionalisierung des epischen Erzählens geworden war, ist nun literatur
theoretisch und -logisch betrachtet ein besonders ergiebiges Mittel, über
die apräteritive, ja, wie wir sehen werden, atemporale Funktion überhaupt
des epischen Präteritums aufzuklären. Um dies an Texten erlebbar zu machen,
seien dieser Überlegung drei solche Stellen vorangestellt:
Das konnte einfach nicht wahr sein — wenn er nur allein an sie dachte! Aber wieviel
würde sie verstehen? Würde er sie nicht schon nach den ersten drei Minuten verlieren? Und
das sollte er wagen ? Wer verlangte das von ihm, wer konnte es verlangen ?
(Edzard Schaper, Der letzte Advent)
He dropped her hand. Thcir marriage was over, he thought, with agony, with relief. The
rope was cut; he mounted; he was free, as it was decreed that he, Septimus, the lord of men,
should be free; alone . . . he, Septimus was alone . . . (Virginia Woolf, Mrs. Dalloway)
Und er verglich in Gedanken den Kirchturm der Heimat mit dem Turm dort oben. Jener
Turm, bestimmt, ohne Zögern geradewegs nach oben sich verjüngend, breitdachig, ab
schließend mit roten Ziegeln, ein irdisches Gebäude — was können wir anderes bauen ? — ...
Der Turm hier oben, es war der einzig sichtbare —- der Turm eines Wohnhauses, wie es sich
jetzt zeigte, vielleicht des Hauptschlosses, war ein einförmiger Rundbau ... mit kleinen
Fenstern, die jetzt in der Sonne aufstrahlten •— etwas Irrsinniges hatte das — und einem
söllerartigen Abschluß ... (Franz Kafka, Das Schloß)
Es ist der Erkenntnis der Fiktionsstruktur nicht damit gedient, wenn man
mit ängstlicher Festhaltung am ursprünglichen grammatischen Sinn des
Imperfekts auch noch angesichts dieser nunmehr so gewöhnlichen Erzähl
form die Auffassung der epischen Handlung als einer vergangenen oder
>erinnerten< nicht aufgeben will. Es ist in diesem Zusammenhang notwen
dig, gerade den Begriff der >Erinnerung<, der neuerdings in die Theorie
der erzählenden Dichtung eingeführt worden ist, einer kritischen Betrachtung
zu unterziehen. In der in vieler und grundlegender Hinsicht bedeutenden
Kunsttheorie der amerikanischen Philosophin Susanne Langer »Feeling and
Form« heißt es, daß es das Ziel der erzählenden Dichtung sei, nicht zwar
darüber zu informieren was geschehen sei und wann es geschehen sei, »but
to create the illusion of things past, the semblance of events lived and feit,
like an abstracted and completed memory«, als, wie es auch heißt, »a sem-