betonen will, daß es sich hier nicht um >wirkliche< Vergangenheit handelt,
so ist nicht bemerkt, daß schon durch diesen Begriff der der Vergangenheit
überhaupt aufgehoben oder eliminiert ist. Indem die Fiktion (nicht bloß die
epische, sondern ebenso auch die dramatische und die filmische) den Schein
des Lebens erzeugt, enthebt sie es der Vergangenheit, enthebt sie es der Zeit,
und das heißt nichts anderes als der Wirklichkeit überhaupt. Gerade weil
dies auch eine der Grundansichten von S. Langers Kunsttheorie ist, muß
der Begriff der >virtual memoryx aus ihrer Dichtungstheorie entfernt werden.
Wir werden sehen, in welcher Weise das Verhalten des epischen Präteriums
zum Beweise dieser Zeitlosigkeit beiträgt.
Wir gingen auf die Langersche Theorie mit Hinblick auf die Form der
erlebten Rede ein, weil gerade diese am besten geeignet ist, sie ad absurdum
zu führen. Denn eklatanter als irgendeine andere Erzählform weist sie auf
den grundsätzlichen Fehler hin, der in alle Theorien, und im besonderen in
alle Vergangenheitstheorien über die epische Dichtung eingegangen ist, die
Nichtberücksichtigung der Erscheinung, die eine epische Dichtung erst zur
epischen macht: die fiktiven Personen, die »Mimesis handelnder Menschen«,
die nur von Aristoteles als das zentrale Phänomen erkannt ist. Und noch
mehr würde er sich über die Nichtbeachtung dieses Faktums auch bei seinen
Zeitgenossen gewundert haben, hätte er die erlebte Rede gekannt. Denn sie,
deren einziger grammatischer Ort die erzählende Dichtung ist, enthüllt in
der Tat erst ganz das paradoxe Tempusgesetz, das in ihr gleichsam >natur-
notwendig< waltet, in seiner grammatischen Paradoxie. »Wer verlangte das
von ihm, wer konnte es verlangen ?« — »Since she had left him, he, Septimus,
was alone«. — »Der Turm hier oben, es war der einzig sichtbare — ... etwas
Irrsinniges hatte das —.« Das Imperfekt bzw. Plusquamperfekt dieser Verben
wird als solches tonlos, bedeutungslos. Relevant ist nur der Bedeutungs
gehalt des Verbs selbst, der aussagt über das Denken und Fühlen, das sich
in diesem fiktiven Augenblick ihrer fiktiven Existenz in den Gestalten voll
zieht. »... he, Septimus, was alone« — nicht daß er >damals< — wann denn
auch? — allein war, ist das Erlebnis, daß wir lesend haben, sondern daß er
allein ist in seiner armen zerstörten Seele, in dem geschilderten Augenblick
seines Lebens. Es ist die Romangestalt, die fiktive Person, die die Imperfektbedeutung
der schildernden Verben zunichte macht. Deutlicher, greifbarer als irgendeine
andere Erzählform beweist dies die erlebte Rede, weil sie — im Unterschied
zum Dialog und auch zum Selbstgespräch, die an sich dieselbe Funktion
haben — unter Beibehaltung der epischen Berichtform und damit des Prä
teritums das adäquateste (nicht zufällig populär gewordene) Mittel ist, die
77