doch nicht ohne Absicht schon hier und da den hier benutzten Begriff >Ge-
genwart< in Anführungsstriche gesetzt. Denn hier stoßen wir auf Verhält
nisse, die eine nähere Untersuchung erfordern. Wenn es richtig ist, daß die
präteritive Form der Erzählung nicht bedeutet, daß die erzählten Ereig
nisse und Personen vergangen oder als vergangen gedacht sind, können wir
sie dann aber ohne weiteres als gegenwärtig, wenn auch fiktiv gegenwärtig,
bezeichnen? Wenn wir oben sagten, daß der Romansatz »Herr X war auf
Reisen« nicht bedeute, daß er es dann und dann einmal war, sondern daß er
es ist— hat dieses Präsens dann ohne weiteres die Bedeutung des im genauen
Sinne temporalen Präsens? Würden wir diese Frage ohne Einschränkung
bejahend beantworten, würden wir uns in der Tat eines logischen Fehlers
schuldig machen, der die gesamte Phänomenologie des epischen Präteritums
wieder in Frage stellte, ja ungültig machte. Selbst der Nachweis, daß das
Präteritum der Erzählung mit deiktischen Adverbien verbunden werden
kann, ist noch kein logisch schlüssiger Beweis dafür, daß das grammatische
Präteritum die Bedeutung des grammatischen Präsens annimmt. Welches
ist der logische, wenn auch nicht leicht greifbare Fehler, den wir damit be
gehen würden? Wir würden uns auf zwei verschiedenen erkenntnistheo
retischen Ebenen bewegen. Wir können die fiktive Gegenwart der Roman
personen nicht mit dem Erlebnis des Nicht-Vergangenseins gleichsetzen,
d. h. ein durch die Bezeichnung >fiktive Gegenwart angegebenes Zeitmo
ment nicht in das Erlebnis von einer Romanhandlung einführen, die über
haupt nicht auf ein Zeiterlebnis des Lesers (und Autors) Bezug hat. Daß die
Romanhandlung nicht als vergangen erlebt wird, besagt nicht, daß sie — von
uns — als gegenwärtig erlebt wird. Denn das Vergangenheitserlebnis ist als
solches nur sinnvoll mit Bezug auf ein Gegenwarts- und ein Zukunftserleb
nis — und dies besagt nichts anderes, als daß das Gegenwartserlebnis ebenso
wie das Vergangenheits- und Zukunftserlebnis das Erlebnis der Wirklich
keit ist. Das fiktionale Präteritum hat freilich nicht die Funktion, ein Ver
gangenheitserlebnis zu erwecken, aber es hat darum nicht die Funktion, ein
wenn auch nur fiktives Gegenwartserlebnis zu erwecken: das nicht-tempo
rale war des fiktionalen Erzählens bedeutet nicht auch schon ein tempo
rales ist. Der Begriff >fiktive Gegenwart ist an sich ebenso logisch fehler
haft wie der oben kritisierte Begriff >virtual past<. Er ist sinnvoll nur als
Gegensatz zu dem Begriff >fiktive Vergangenheit< und dem Begriff >fiktive
Zukunft<. Und das bedeutet, daß er zu dem fiktiven Zeitsystem gehört, das
in der erzählenden Dichtung gestaltet werden kann wie alle anderen Be
standteile des gestaltbaren Stoffes, den die Wirklichkeit in allen ihren Arten
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