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auszulöschen. Situationsverben sind immer Hilfsmittel der Fiktionalisierung;
aber sie sind sprachtheoretisch gesehen für den Charakter der epischen Fiktion
noch nicht entscheidend, da sie auch in der Wirklichkeitsaussage, in jeder
Situationsschilderung, Vorkommen. Fiktional unmittelbar ausweisend sind
sie nur in einem Text wie dem angeführten, weil die Situationsschilderung
der historischen Zeitangabe widerspricht.
Jetzt und hier also, vergegenwärtigt, rollt sich das Geschehen in der erzäh
lenden Dichtung ab, ohne daß dieses Jetzt, diese Vergegenwärtigung den Sinn
temporaler Gegenwart haben muß, wenn es diesen auch als einen fiktiven —
und dies sogar leicht — annehmen kann. Wenn die Dichtkunst aber, wie
Schiller gegen Goethe (und mit ihm viele im selben Sinne) meinte, auch den
epischen Dichter nötige zu »vergegenwärtigen«, so wird dieser Begriff fehler
haft, wenn, wie bei Schiller, gemeint ist, daß ein »Geschehenes«, ein Vergangenes
vergegenwärtigt werden muß. Nur darum hat das Präteritum der erzählenden
Dichtung keine Vergangenheitsfunktion mehr, weil die Dichtung nicht im
temporalen Sinne vergegenwärtigt. Der Begriff der Vergegenwärtigung ist in
seiner Zweideutigkeit nicht nur ungenau, er ist zur Bezeichnung der Struktur
der fiktionalen, der mimetischen Dichtung fehlerhaft und irreführend. Er
bedeutet hier Fiktionalisierung. Und hierzu steht es nun nicht in Widerspruch,
wenn wir trotzdem sagen, daß sich die Romanhandlung >jetzt und hier< ab
spielt, und eben dadurch angeben, daß sie nicht als vergangen erlebt wird. Denn
>Jetzt und Hier< — und hiermit schließt sich der Kreis des Beweises der Funk
tionslosigkeit des Präteritums — bedeutet erkenntnis- und damit auch sprach
theoretisch primär den Nullpunkt des Wirklichkeitssystems, das durch die
Koordinaten der Zeit und des Raumes bestimmt ist. Es bedeutet die Ich-Origo,
in bezug auf die das Jetzt keinen Vorrang vor dem Hier hat oder umgekehrt,
sondern alle drei Bestimmungen den Ursprungspunkt des Erlebens bezeich
nen. Auch ohne daß durch ein Heute, ein bestimmtes Datum und dergleichen
mehr eine Zeit, eine >Gegenwart< — die in temporalem Sinne nicht punkthaft,
sondern willkürlich, je nach dem subjektiven Erleben, ausgedehnt ist — ange
geben ist, erleben wir das Romangeschehen als >Jetzt und Hier<, als Erlebnis
fiktiver — wie Aristoteles sagte: handelnder — Menschen, und das heißt
wiederum nichts anderes, als daß wir diese Menschen in ihrer fiktiven Ich-
Originität erleben, auf die nun wie alle anderen Angaben auch alle möglichen
Zeitangaben bezogen sind.
Damit ist nun auch schon gesagt, daß der Verlust der Vergangenheitsfunk
tion des Präteritums nicht bedeutet, daß es nun eine Gegenwartsfunktion er
hält. Wenn der Romansatz »Die Mittagssonne stand über der kahlen Höhe des