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Julierpasses« auch das Erlebnis vermittelt, daß die Mittagssonne über dem
Julierpasse >steht<, weil wir den Schauplatz fiktiver Personen betreten haben,
so hat diese präsentische Form ebensowenig temporal präsentische Bedeutung
wie die präteritive Form temporal präteritive hat. Dieser präsentische Sinn ist
kein anderer als der, den uns ein Gemälde, eine Statue vermittelt, der Sinn des
Da-seins, des Immer-seins, eines >stehenden Jetzt und Hier<, wie er denn der
Grundsinn sowohl des deutschen Begriffes Gegenwart wie des romanischen
repraesentare ist, in bezug auf den der temporale Sinn sekundär und abgeleitet
ist. Das Jetzt ist abhängig von dem Hier, etre present, nicht das Hier von dem
Jetzt.
Die Fiktionalisierung, das als Jetzt und Hier der fiktiven Personen dargestellte
Geschehen vernichtet die temporale Bedeutung des Tempus, in dem eine erzählende
Dichtung erzählt ist: die präteritive des grammatischen Imperfekts, aber eben
so auch die präsentische des historischen Präsens. Obwohl dieses problemati
sche und vieldiskutierte Tempus durch die obigen Nachweise systematisch
bereits erklärt ist, müssen wir doch an dieser Stelle eine genauere Beschreibung
von ihm einfügen, und zwar mit dem Ziel, es in der Funktion, die ihm Dichter
und Interpreten zuzuschreiben pflegen, kritisch zu erörtern.
Das historische Präsens
Das historische Präsens diente fast durchweg als Hauptstütze der Vergegen
wärtigungstheorie des Erzählens. Aber gerade seine Charakterisierung wurde
dadurch verunklart, daß zwischen seinem Auftreten im mündlichen und schrift
lichen Ichbericht, in historischen Dokumenten bzw. Darstellungen und in der
Epik nicht unterschieden wurde, was darauf beruht, daß überhaupt Sprach
wissenschaft und Grammatik den Untersuchungen der Tempora und Prono
mina einen eindeutigen Begriff des Erzählens zugrunde gelegt haben. Durch
weg fast wurde daher das Verhältnis zur Vergangenheit für seine Erklärung
ausschlaggebend. Der Erzähler, heißt es etwa bei Jespersen »steps outside the
frame of history, visualizing and representing what happened in the past as if
it were present before his eyes« 71 — wobei es an der Sache nichts ändert, ob
man sich »die Begebenheit gleichsam in die Gegenwart gerückt« 72 oder »sich
in die Vergangenheit zurückversetzt« 73 denkt. Eine genauere und, wie mir
scheint, die eigentlich entscheidende, das Phänomen in seinem Wesen erfassende
71 O. Jespersen, The Philosophy of Grammar, London 1924, S. 258
72 Ch. A. Heyse, a. a. O., S. 360
73 R. Kühner, Grammatik der griechischen Sprache, II. Teil, Bd. 1, Leipzig 1898, S. 132