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seinen Ort in der Zeit, wie das Ich des autobiographischen Berichtes, die Zeit
Barbarossas steht in seiner Vergangenheit. Aber wir referieren die erzählten
Begebenheiten nicht auf diesen Ort, der sozusagen zu weit von dem der Ereig
nisse entfernt ist, und eben deshalb, eben weil der Historiker sich nicht wie der
Autobiograph der geschilderten Begebenheiten erinnern, sie >sich< nicht >ver-
gegenwärtigen< kann, hat dieses historische Präsens keine vergegenwärtigende
Funktion. Angesichts historischer Darstellungen von diesem Typus hat denn
auch schon Brugmann-Delbrück das historische Präsens nicht im Sinne der
Vergegenwärtigung, d. i. eines Zeitverhältnisses zwischen Vergangenheit und
Gegenwart aufgefaßt, sondern schreibt ihm die Funktion dramatischer Ver
anschaulichung zu: »Der Sprechende hat die Handlung wie in einem Drama
vor Augen, und über dem Interesse an ihr wird ihm die Vorstellung des Zeit
verhältnisses nicht lebendig.« 76 Ersetzen wir den Ausdruck »wie in einem
Drama« durch epische Fiktion, so hat Delbrück hier völlig richtig gesehen.
Das historische Präsens übt hier keine temporal vergegenwärtigende, sondern
eine fiktional vergegenwärtigende Funktion. Es läßt die Personen stärker als
dies durch das Präteritum geschieht als aus sich selbst handelnde erscheinen,
zeigt sie im Vollzug ihres Handelns, während das Imperfekt in einem histori
schen Bericht weit mehr das vollzogene Handeln, die Fakta, kenntlich macht.
In einer noch weiter durchgeführten Art zeigt sich diese fiktionalisierende
Funktion des historischen Präsens im objektiven historischen Bericht an vielen
Stellen von F. Sengles schöner Wielandbiographie (1949). Die Analyse einer
solchen Stelle sei hier gegeben, weil sie durch den Aufweis sehr verborgener
Grenzen für die Erhellung des historischen Präsens in der epischen Fiktion
sehr aufschlußreich ist:
So lagen die Dinge, als Wieland sich plötzlich zur evangelischen Heirat entschloß. Er
wußte, daß es unter dieser Voraussetzung ganz ausgeschlossen war, die Zustimmung von
Christines Mutter zu erhalten ... Sie wird alle Hebel gegen eine protestantische Verheiratung
Christines in Bewegung setzen. Deshalb will Wieland das Mädchen möglichst rasch aus Augs
burg holen lassen . . . und sie in seinem Haus verstecken. Die Fenster eines Zimmers sind
bereits mit Papier verkleidet, damit die Nachbarn nichts merken, die alte Floriane hat allein
Zutritt und sie ist bis in den Tod verschwiegen . . . Dem guten Schmelz bleibt weiter nichts
übrig als zu warten ... und Vater und Tochter ins Kloster Rot zu begleiten .. . Wieland
fährt nach Rot, er trifft Vater und Tochter nicht mehr an . . . Jetzt ist er am Ende. Die Sehn
sucht nach dem Tod überkommt ihn ... In solcher Verfassung sitzt er nach der Rückkehr
von Rot brütend zu Hause ... Er versteht Gott nicht mehr, wie er Menschen von solcher
barbarischen Härte schaffen kann. Gibt es kein Mittel, ihnen zu entrinnen ? (S. 133 f.)
76 Brugmann-Delbrück, Grundriß d. vergleichenden Grammatik der indogermanischen
Sprachen, II, 3, 1, Straßburg 1916, S. 733