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Romanpersonen bezogen sind, etwa in ihren Reden zum Ausdruck kommen),
ist das Präteritum (zu dem das historische Präsens semantisch gehört) nur noch
das Substrat, in dem die Erzählung vor sich gehen muß. Es ist als solches, d. i.
als Vergangenheitstempus ebenso unbemerkt wie die Leinwand im Gemälde,
und vom Verb, an das es gebunden ist, das in einer finiten Form erscheinen
muß, ist nur noch sein semantischer Gehalt übrig, die Handlung, der Zustand
usw., der durch das jeweilige Verb ausgedrückt ist, nicht aber, daß diese Hand
lung, dieser Zustand vergangen seien. Lese ich in »Anna Karenina«: »Alles
ging drunter und drüber im Hause Oblonsky« erfahre ich nicht, daß es irgend
wann einmal drunter und drüber ging sondern daß es drunter und drüber ging,
und steht dieser Satz im historischen Präsens, erfahre ich genau dasselbe: einen
Sachverhalt, aber keine Zeit.
Als ein Indizium für die atemporalen Verhältnisse in der epischen Fiktion
kann das Präsens dienen, das wir unwillkürlich, aber mit logischer Notwendig
keit anwenden, wenn wir den Inhalt einer Erzählung so gut wie den eines
Dramas wiedergeben, und deshalb das reproduzierende Präsens nennen können.
Der sprachlogische Sinn dieses Präsens tritt erst deutlich hervor, wenn wir
statt seiner uns des Imperfekts bedienen würden. Denn dieses Imperfekt würde
sogleich der Fiktion den Charakter eines Wirklichkeitsdokuments geben, und
ist, wie kaum gesagt zu werden braucht, nicht mit dem epischen Präteritum
identisch. Eben deshalb ist auch das reproduzierende Präsens kein historisches
Präsens, sondern das atemporale Präsens der Aussage über seiend Ideelles.
Wenn in der Besprechung einer fiktionalen Dichtung sich Inhaltsangabe mit
reflektierend beurteilender Interpretation verbindet — z. B. Schiller über den
Wilhelm Meister an Goethe schreibt: »Von jener unglücklichen Expedition
an, wo er ein Schauspiel aufführen will, ohne an den Inhalt gedacht zu haben,
bis auf den Augenblick, wo er — Therese zu seiner Gattin wählt, hat er gleich
sam den ganzen Kreis der Menschheit einseitig durchlaufen.« (8. 7. 1796) —
verändert sich die atemporale Bedeutung des Präsens nicht. Und wenn wir
etwa nicht wissen sollten, worauf sich der Satz Schillers bezieht, klärt das
Präsens darüber auf, daß er von einer Dichtung und nicht von realen Verhält
nissen redet, in welchem Falle er sich des Imperfekts der Wirklichkeitsaussage
bedient hätte.
Das Zeitproblem im historischen Roman
Die Phänomenologie der fiktionalen Tempora erfordert noch Klärung des
Zeitproblems solcher Romane, in denen es eine stoffliche Rolle spielt und aus