Full text: Die Logik der Dichtung

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Wirklichkeitsproblem an. Begegnet ein unbekannter geographischer Name 
(wie jeder andere auch) in einem historischen Dokument, einem Wirklich 
keitsbericht, so zweifeln auch die Leser, die diesen Namen nicht kennen, nicht 
an der Wirklichkeit des durch ihn genannten Ortes. In der Fiktion aber wird 
umgekehrt eine noch so bekannte wirkliche Örtlichkeit der Frage nach ihrer 
Wirklichkeit entrückt. Und dieselbe Beweisführung kann für die zeitliche 
Wirklichkeit angestellt werden. Das Datum 2. März 1903 ist im Roman 
ebenso fiktiv wie das Jahr 1984, in das die politische Unheilsutopie Orwells 
verlegt ist — wohlverstanden nicht wegen der von den im Erscheinungsjahr 
Lebenden noch nicht erlebten Zeit (was für die nächste Generation dann 
nicht mehr gültig wäre), sondern weil es sich um eine Romanzeit handelt. 
Und daß auch diese, wie alle andern Zukunftsutopien im Imperfekt — und 
nicht etwa im Futurum — erzählt ist, mag nochmals drastischen Aufschluß 
'über die atemporale Bedeutung des epischen Präteritums geben. Auch die 
Utopie erzählt ihre Ereignisse in bezug auf ihre fiktiven Personen, als deren 
Jetzt und Hier, so, daß die Verhältnisse der Fiktionsstruktur in ihr sich in 
keiner Hinsicht von der des >Gegenwartsromans< oder des historischen Ro- 
mans< unterscheiden. 
Denn es bedarf nicht mehr vieler Worte, um verständlich zu machen, daß 
auch das Imperfekt des historischen Romans nichts mit dem historischen 
Charakter seines Stoffes zu tun hat. Der französisch-russische Krieg von 1812, 
zu dem als einem historischen Ereignis die heutige Generation ein anderes 
Zeitverhältnis hat als die der siebziger Jahre, wird als Stoff von Tolstois 
»Krieg und Frieden« von uns in derselben >Gegenwärtigkeit< erlebt wie von 
dem Leser der siebziger Jahre, in denen er erschien. Denn auch in einem 
solchen Roman, dessen Wirklichkeitsstoff als ein der Geschichte, der Ver 
gangenheit zugehöriger gewußt ist, ist die Ich-Origo, und damit das Zeit- und 
Wirklichkeitsbewußtsein des Lesers nicht anwesend, und er erlebt deshalb 
das >es war< der Erzählung genau in derselben Weise wie in einem Roman mit 
erfundenem Stoff als das fiktive Jetzt der Gestalten: Napoleons, wenn er bei 
seiner Morgentoilette geschildert wird, so gut wie Fürst Andrej Bolkonskijs, 
von dem wir nicht mit ebenso großer Sicherheit wissen, ob und wieweit der 
Stoff zu seiner Gestalt erfunden oder gleichfalls historisch ist. Als Gegenstand 
eines historischen Werkes ist Napoleon als Objekt geschildert, von dem etwas 
ausgesagt wird. Als Gegenstand eines historischen Romans wird auch Napo 
leon ein fiktiver Napoleon. Und dies nicht darum, weil der historische Roman 
von der historischen Wahrheit abweichen darf. Auch historische Romane, die 
sich ebenso genau wie ein historisches Dokument an die historische Wahrheit
	        
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