94
Wirklichkeitsproblem an. Begegnet ein unbekannter geographischer Name
(wie jeder andere auch) in einem historischen Dokument, einem Wirklich
keitsbericht, so zweifeln auch die Leser, die diesen Namen nicht kennen, nicht
an der Wirklichkeit des durch ihn genannten Ortes. In der Fiktion aber wird
umgekehrt eine noch so bekannte wirkliche Örtlichkeit der Frage nach ihrer
Wirklichkeit entrückt. Und dieselbe Beweisführung kann für die zeitliche
Wirklichkeit angestellt werden. Das Datum 2. März 1903 ist im Roman
ebenso fiktiv wie das Jahr 1984, in das die politische Unheilsutopie Orwells
verlegt ist — wohlverstanden nicht wegen der von den im Erscheinungsjahr
Lebenden noch nicht erlebten Zeit (was für die nächste Generation dann
nicht mehr gültig wäre), sondern weil es sich um eine Romanzeit handelt.
Und daß auch diese, wie alle andern Zukunftsutopien im Imperfekt — und
nicht etwa im Futurum — erzählt ist, mag nochmals drastischen Aufschluß
'über die atemporale Bedeutung des epischen Präteritums geben. Auch die
Utopie erzählt ihre Ereignisse in bezug auf ihre fiktiven Personen, als deren
Jetzt und Hier, so, daß die Verhältnisse der Fiktionsstruktur in ihr sich in
keiner Hinsicht von der des >Gegenwartsromans< oder des historischen Ro-
mans< unterscheiden.
Denn es bedarf nicht mehr vieler Worte, um verständlich zu machen, daß
auch das Imperfekt des historischen Romans nichts mit dem historischen
Charakter seines Stoffes zu tun hat. Der französisch-russische Krieg von 1812,
zu dem als einem historischen Ereignis die heutige Generation ein anderes
Zeitverhältnis hat als die der siebziger Jahre, wird als Stoff von Tolstois
»Krieg und Frieden« von uns in derselben >Gegenwärtigkeit< erlebt wie von
dem Leser der siebziger Jahre, in denen er erschien. Denn auch in einem
solchen Roman, dessen Wirklichkeitsstoff als ein der Geschichte, der Ver
gangenheit zugehöriger gewußt ist, ist die Ich-Origo, und damit das Zeit- und
Wirklichkeitsbewußtsein des Lesers nicht anwesend, und er erlebt deshalb
das >es war< der Erzählung genau in derselben Weise wie in einem Roman mit
erfundenem Stoff als das fiktive Jetzt der Gestalten: Napoleons, wenn er bei
seiner Morgentoilette geschildert wird, so gut wie Fürst Andrej Bolkonskijs,
von dem wir nicht mit ebenso großer Sicherheit wissen, ob und wieweit der
Stoff zu seiner Gestalt erfunden oder gleichfalls historisch ist. Als Gegenstand
eines historischen Werkes ist Napoleon als Objekt geschildert, von dem etwas
ausgesagt wird. Als Gegenstand eines historischen Romans wird auch Napo
leon ein fiktiver Napoleon. Und dies nicht darum, weil der historische Roman
von der historischen Wahrheit abweichen darf. Auch historische Romane, die
sich ebenso genau wie ein historisches Dokument an die historische Wahrheit