Sonderabdruck aus der Zeitschrift des Vereines deutscher Ingenieure, Band XXXVI, Seite 839.)
Württembergiseher Bezirks verein.
Sitzung vom 14.Mai 1892 in Cannstatt.
Vorsitzender: Hr. C. Bach. Schriftführer: Hr. Zeman.
Anwesend 194 Mitglieder und 177 Gäste.
Zur Besichtigung der Baustelle der neuen Neckarbrücke
zwischen Stuttgart und Cannstatt versammelten sich im Leuze’schen
Bade zu Berg zahlreiche Vereinsmitglieder aus dem ganzen Lande
und als Gäste Vertreter der staatlichen und städtischen Verwaltun
gen sowie Mitglieder der bürgerlichen Kollegien von Stuttgart und
Cannstatt, des Vereines für Baukunde und sonstige Eingeladene der
beiden Städte, insgesamt über 400 Personen. Die Führung und Er
klärung auf den Arbeitsstätten erfolgte in vier Gruppen unter Ober
leitung des Hrn. Regierungsdirektors v. Leibbrand, Vorstand der
König!, württembergischen Ministerialabteilung für den Strassen- und
Wasserbau.
Im grossen Saal des Kurhauses zu Cannstatt waren auf der
ganzen Länge zu beiden Seiten Pläne, Perspektiven und Karten des
Bauwerkes und der Konkurrenzentwürfe für den eisernen Oberbau,
ferner Proben des zur Verwendung gelangenden Flusseisens ausge
stellt, unter der Rednerbühne Modelle der Brückenköpfe und dergl.
sowie ein prächtiges, von den Architekten Lambert und Stahl in
Stuttgart ausgeführtes Aquarellbild. Nach den Erläuterungen auf
der Baustelle vereinigten sich die Teilnehmer im Kursaal zur Be
sichtigung der hochinteressanten Ausstellung.
Der Vorsitzende eröffnet die Sitzung, um zunächst der Bau
verwaltung sowie den Führern und Erklärern auf der Baustelle
namens aller Beteiligten herzlichst Dank zu sagen, worauf Hr. Re
gierungsdirektor v. Leibbrand das Wort zu seinem Vortrage über
Entwicklungsgeschichte, Gründungsarbeiten und Konstruk
tion der neuen Neckarbrücke bei Stuttgart
nimmt.
Zunächst wird das Unzureichende der bestehenden Fahr
end Gehwegverbindungen zwischen Stuttgart und Cannstatt
nachgewiesen. Die vor nahezu 60 Jahren durch Etzel er
baute Wilhelmsbrücke musste in die alte Verkehrsstrasse
Heilbronn-Cannstatt-Nürnberg gelegt werden. Dass sie heut
zutage, nachdem unsere Hauptverkehrszentren die Bahnhöfe
geworden sind, nicht mehr an der richtigen Stelle liegt, ist
klar. Auch in wasserbautechnischer Beziehung ist sie nach
und nach nicht unbedenklich geworden. Seit nämlich das
alte Bett für Hochwasser im Seelberg nahezu vollständig
überbaut worden ist, drängt eben fast alles Hochwasser der
Wilhelmsbrücke zu. Sie ist zwar besser als die zuvor be
standene alte Holzbrücke, welche nur 386 qm Hochwasser
durchflussprofil hatte, indem ihr 466 qm gegeben werden
konnten; allein dies reicht weitaus nicht zum Durchgang des
grössten bekannten Hochwassers von 1824, das 2000 cbm in
d. Sek. führte, indem die Wilhelmsbrücke, auch wenn sie in
allen 5 Oeffnungen voll läuft und das Wasser bis an die Fahr
bahn gestaut ist, nur 1400 cbm durchzulassen vermag. Der
Rest mit 600 cbm muss sich seinen Weg teils durch den
Seelberg, teils durch die Marktstrasse erzwingen. Das sind
bedenkliche Zustände für die Wilhelmsbrücke und ihre Um
gebung, die nur wenig verbessert werden können; Abhilfe
durch Schaffung einer unbedingt sicheren, hoch wasserfreien
Brücke ist daher notwendig. Das Unzulängliche des be
stehenden Fussgängersteges bei der Insel ist unzweifelhaft;
hier ist der Verkehr schon zu gewöhnlicher Zeit sehr beengt,
und bei besonderen Veranlassungen herrscht hier drangvolle
Enge, ist der Zustand ganz unerträglich. Auch der sehr be
deutende Verkehr ins Remsthal lässt eine kürzere Wegver
bindung wünschenswert erscheinen. Für die richtige Ent
faltung und Weiterentwicklung Stuttgarts ist eine neue Brücke
eine Grundbedingung. Der Entlastung des Stuttgarter Güter
bahnhofes würde eine neue Brücke im hohen Grade zu Hilfe
kommen. Die militärischen Interessen werden wesentlich ge
fördert, seit im Neckarthal ein grosser Exerzierplatz geschaffen
ist. Besonders aber würde der Verkehr in den Tagen des
Volksfestes, wenn aus allen Teilen des Landes das Volk hier
zusammenströmt, seines bisherigen nicht ungefährlichen Cha
rakters entkleidet und so erleichtert, wie es längst notwendig ist.
Die Frage eines Brückenbaues wurde im Jahre 1886 von
den Bürgervereinen Stuttgarts und etwas später durch Ober
bürgermeister N äst in Cannstatt bei dem Ministerium des Innern
angeregt; der letztere suchte dabei um die Ermächtigung nach,
eine neue Brücke, die nach etwa 30 Jahren an den Staat heini
fallen könnte, gegen das Recht der Brückengelderhebung bauen
zu dürfen. Die hierauf unter Leitung des damaligen Oberbau
rates v. Martens ausgearbeiteten allgemeinen Entwürfe liessen
etwa 1 Million Mark als Aufwand für eine 350 m lange Brücke
mit 296 m Durchflussweite in Aussicht nehmen. Da der
Staat mit vollem Grund Bedenken trug, eine so wichtige
Brücke mit Brückengelderhebung zuzulassen, so wurde zunächst
versucht, von den beim Bau beteiligten Gemeinden Stuttgart
und Cannstatt und sonstigen Interessenten Beiträge zu einem
Neubau zu erhalten. Der Erfolg war jedoch nicht befriedigend,
da nur 170000 JL zugesichert wurden. Hieran schien die
Sache zu scheitern, da der Staat nicht geneigt war, den
Löwenanteil bei dem Bauwesen zu übernehmen. Nachdem
Hr. Staatsminister v. Schmid das Ministerium des Innern
übernommen hatte, erhielt die Frage neuen Anstoss. Es
wurden erneute Untersuchungen von technischer Seite ange
ordnet, und der nunmehr mit der Behandlung betraute da
malige Oberbaurat v. Leibbrand schlug zunächst vor, die
Gesamtdurchflussweite der Brücke erheblich, auf nur 230 m
zu kürzen. Dies schien mit Rücksicht darauf unbedenklich,
dass die Eisenbahnbrücke nur 180 m Durch fl ussweite hat
und der Aufstau des Hochwassers durch die beantragte
Schmälerung der Durchflussweite nur unbedeutend — bei dem
Hochwasser von 1851 beispielsweise nur 5 cm — vermehrt
würde. Die hierdurch ermöglichte Kostenersparnis wurde zu
200000 M geschätzt.
Zunächst war es jedoch notwendig, eingehende Unter
suchungen über die Beschaffenheit des Baugrundes anzu
stellen , da die auf wenige Bohrversuche gestützte Annahme
des Martens’schen Entwurfes, dass die Brückenpfeiler zu
meist in der Höhe des Neckarbettes fundirt werden könnten,
nicht zutreffend erschien. In 3 Schächten, die 5 bis 8,5 m
unter Niederwasser hinabgetrieben werden konnten, und an
die sich Bohrungen bis zu 16 m Tiefe anschlossen, sowie mit
einer Reihe von Probepfahlen wurde der Grund untersucht
und recht ungünstig gefunden. Während in den Schächten