Full text: Monatsschrift des Württembg. Vereins für Baukunde in Stuttgart (1898-1904)

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man noch unter der großen Glocke durchgehen kaun (freie Höhe 
1,70 m). Der Glockenstuhl konnte hiedurch stabiler und leichter kon 
struiert werden. Derselbe ist zunächst zur Aufnahme von 7 Glocken 
bestimmt, wovon 2 größere ä 3500 und 5000 kg in der Mitte, 
ferner 5 kleinere von 350—1500 kg Gewicht auf den Seiten an 
gebracht sind; wenn nötig, kann noch eine weitere Glocke eingehängt 
werden. 
Die Träger des Glockeustuhles bestehen aus Fachwerk mit 
Kreuz streben, welche in allen Knotenpunkten durch Träger 
unterstützt sind, die auf den Böcken aufliegen, und zwar derart, daß 
jedem I-Tröger ein Knotenpunkt des Bockes entspricht. Die mittleren 
Träger treffen direkt auf die beiden mittleren Böcke, die beiden 
äußeren aber liegen zwischen den äußeren Böcken, die Unterzüge sind 
somit hier auf relative Festigkeit in Anspruch genommen. Eine seit 
liche Verstrebung der Glockenstuhlträger erfolgt an den Enden und 
von der Außenseite her. In der Mitte konnte solche nur in be 
schränktem Maße angebracht werden, da das Ausschwingen der Glocken 
und der Glockenklöppel nicht gehindert werden durfte. 
Die Gurtungen der Träger sind nur sehr wenig in Anspruch 
genommen, da die großen Glocken direkt auf den Vertikalständern 
sitzen und nur die kleinen Glocken etwas auf die Seite gerückt 
werden mußten, weil auf den schmalen Gurtungen nicht Raum für 
2 Lager nebeneinander vorhanden ist. Die obere Gurtung ist hiedurch 
teilweise auf relative Festigkeit beansprucht, sonst treten fast keine 
Kräfte in derselben auf. Die untere Gurtung hat nur Horizontal 
kräfte auszuhalten, außer wenn Glocken hin und her zu schaffen 
sind, wobei geringe Beanspruchung auf relative Festigkeit erfolgt. 
Trotz der geringen Beanspruchung sind die Gurtungen sehr 
kräftig gehalten (als H-Träger) namentlich auch mit Rücksicht auf 
seitliche Stabilität, die teilweise nur durch deren horizontales Wider 
standsmoment gewährleistet ist. 
Die Kreuz streben haben die Horizontalkraft aufzunehmen, 
es sind dieselben druck fähig angeordnet, damit beim Schwingen 
der Glocken stets beide Streben in Wirksamkeit treten. Da die 
Glocken in die Seitenfelder von der Aufzugsöffnung aus durch die 
Glockenträger geschafft werden müssen, sind die Streben zum Heraus 
nehmen eingerichtet und deshalb mit Schrauben befestigt, während 
die übrigen Konstruktionsteile vernietet sind. Die Höhe des Auf- 
häugepunktes der Glocken beträgt 59,9 m über dem Kirchenboden. 
Da beim Schwingen der Glocken die Böcke sehr ungleich durch 
Horizontalkräfte in Anspruch genommen sind, so sind wechselnde Be 
wegungen derselben zu befürchten, was eine Verdrehung der Bock 
pyramide hervorrufen könnte. Es ist deshalb der obere Boden mit 
kräftiger Kreuzverstrebung versehen worden, welche diese Hori 
zontalkräfte gleichmäßig auf die 4 Bockgerüste verteilt. Die Horizontal 
kraft muß durch die Unterzüge des Glockenstuhls auf die Böcke über 
tragen werden, welche hiedurch umgeworfen werden könnten. Die 
Unterzüge sind deshalb durch kräftige Konsolen mit dem Obergurt 
der Böcke verbunden worden. 
Die Beanspruchung des Eisenwerks ist im allgemeinen sehr gering 
bemessen, namentlich für diejenigen Teile, welche rasch wechselnden 
Kräften (infolge des Läutens der Glocken) ausgesetzt sind. Für 
letztere sind etwa 600 kg pro qcm für Druck und Zug und 350 kg 
für die Vernietung und Verschraubung gerechnet. Nur für diejenigen 
Teile des Bodens, welche durch Aufstellung von schweren Gegen 
ständen (Glocken und Baumaterial) ab und zu stark in Anspruch ge 
nommen sein können, sind höhere Koeffizienten bis ca. 1000 kg 
pro qcm gewählt, was unbedenklich erscheint, da derartige Be 
lastungen sehr selten vorkommen werden. 
Was schließlich die neuen 7 Glocken selbst anbelangt, so soll 
gelegentlich der Herstellung des eisernen Dachstuhls auch eine Ver 
besserung des Geläutes überhaupt erreicht werden, über die, soviel 
mir bekannt, noch nicht definitiv entschieden ist. Das Umgießen 
einiger der alten Glocken und die neue Aufhängung derselben wird 
durch Glockengießer Kurtz in Stuttgart ausgeführt, das Eisengerüst 
ist von der Maschinenfabrik Edmund Mayer L Co. in Ulm über 
nommen worden zum Preise von 36 JL. pro 100 kg, die Ober 
leitung der ganzen Arbeit liegt in Händen des Münsterbaumeisters 
Professor Beyer. 
Die Aufhängung der alten Glocken geschah seither mittelst 
sogenannter Stockfedern, wobei der Glockenzapfen auf einem 
hohen vertikalen Pendel rollt und seitlich durch ebensolche Pendel mit 
horizontaler Achse gehalten ist. Wenn die seitlichen Pendel sich nach 
und nach auslaufen, so entstehen beim Läuten heftige Stöße; die 
alten Achsen sind hiedurch mehrfach ausgelaufen und beschädigt. 
Die neueren Aufhängevorrichtungen geschehen nach dem System des 
Glockengießers Kurtz in Stultgart, welches Aehnlichkeit mit dem System 
Ritter hat: die Drehachse der Glocken trägt je am Ende einen kleinen 
Sektor, der auf einer flachen, nach oben gekrümmten Fläche rollt, ein 
seitlich angebrachter Zahnkranz verhindert das Abgleiten; außer 
rollender Reibung sind keine Widerstände vorhanden. 
Beim Ritter'schen Aufhängesystem ist ein solcher Sektor 
ebenfalls vorhanden. Der Hauptunterschied zwischen beiden Auf 
hängesystemen besteht aber darin, daß bei der Kurtz'scher Aufhängung 
der augenblickliche Drehpunkt der Glocke über dem Glockenscheitel 
und höher liegt, als der Drehpunkt des Klöppels, während bei Ritter 
umgekehrt der Drehpunkt des Klöppels höher hängt als derjenige der 
Glocke, ferner liegt der Drehpunkt der Glocke unter dem Glocken 
scheitel. Bei Kurtz folgt deshalb der Klöppel der Glocke und trifft 
den Schlagring beim Vorwärtsschwingen beider, während bei Ritter 
die Glocke beim Rückwärtsbewegen den Klöppel trifft. Daher bei 
Kmtz allmälig er, sanfter, bei Ritter viel härterer Anschlag. In 
folge der tiefen Lage des Drehpunktes bei Ritter'scher Aufhängung 
beschreibt die Glocke einen kleineren Bogen und hat kleineres Träg- 
heitsnwment, als bei der gewählten Aufhängung, nimmt daher 
weniger Raum in Anspruch und übt geringeren Horizontalschub aus, 
aber, wie erwähnt, der Ton ist weniger weich. Bei der Aufhängung 
von Pozdech ist der Sektor durch eine Schneide ersetzt, die Wirkung 
ist dieselbe, wie bei der Ritter'schen Aufhängung. 
Bei der Massigkeit der Umfangsmauern kommt die vermehrte 
Horizontalwirkung der Glocken, welche bei Kurtz'scher Aufhängung 
entsteht, nicht in Betracht. 
Zum Schluß sei noch bemerkt, daß das Gesamtgewicht des 
Glockenstuhles nebst Unterbau zu 73 770 kg Flußeisen (und Guß 
eisen) sich berechnet und daß die Gesamtkosten incl. Beton, Plätt 
chen und Dielenbelag, jedoch excl. Umarbeitung und Aufstellung 
der Glocken und der Maurerarbeit für die Auflager, sich auf 
ca. 29 500 M. berechnet. 
Anme rkung der Redaktion. Der Aussatz in Heft 10 (1897) „Die Freilegung der Eßlinger Frauen-Kirche" ist mit Bewilligung des Verfassers 
der Süddeutschen Bauzeitung entnommen. 
Deravogegrden vom Würitrmd. ffirrjiti für iöanknnde. Mr denselben: Vderbanrat a.B. v. iör° ckman n. — Druck von Alfred Müller St Co. — Verlag von 3. weise'- 
Hofduchhandlung, sämtlich in Ltnttgarl.
	        

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