40
Monatsschrift des Württembg. Vereins für Baukünde in Stuttgart.
Nr. 5
Vortrag über die städtischen Arbeiterwohnhäuser in Stuttgart.
Von A. Pantle, städt. Bauinspektor,
gehalten in der Versammlung vom 13. April 1901.
Meine Herren! Ehe ich auf das eigentliche Thema näher
eingehe, gestatten Sie mir einige allgemeine Bemerkungen über
die Arbeiterwohnungslrage.
Die Arbeiterwohnungsfrage bildet einen wesentlichen Teil
der sozialen Frage, die seit der ausserordentlichen Entwicklung
der Industrie in Deutschland Regierungen, Kommunen und
Private aufs lebhafteste beschäftigt.
Soviel die Arbeiterversicherungsgesetze zur Linderung der
Not der arbeitenden Klassen beigetragen haben, so bleibt doch
noch vieles zu thun übrig und dazu gehört in allererster Linie
die Schaffung von Wohnungen, die auch den Unbemittelten
ein schönes geordnetes Familienleben ermöglichen und damit
ein gut Teil der bestehenden Unzufriedenheit beseitigen.
Die rasch aufblühende Industrie hat in die Hauptzentren
derselben aus ländlichen Gegenden einen grossen Strom von
Arbeitern geleitet, mit diesem Andrang hielt die Bereitstellung
von Wohnungen nicht gleichen Schritt, sodass bald ein Woh
nungsmangel entstand, der nicht nur eine Ueberfüllung der vor
handenen Wohnungen, sondern auch eine ausserordentliche und
übermässige Preissteigerung derselben im Gefolge hatte.
In vielen Industriestädten verschlingt die Wohnung über
30°/ 0 des Arbeitsverdienstes.
Solche Preise führen aber zu äusserster Ausnützung der
Wohnungen durch Aftermiete und durch das in moralischer
Beziehung äusserst verderbliche Schlafgängerwesen. Ueber die
Zustände, die an manchen Orten herrschen, mögen folgende
Zahlen ein Bild geben.
In Berlin z. B. ergab sich, dass im Jahr 1895
10403 Einwohner ohne heizbare Zimmer,
710 322 „ in Wohnungen mit nur 1 heizbaren Zimmer,
479370 „ in Wohnungen mit 2 heizbaren Zimmern
untergebracht sind.
66 °/ 0 aller Berliner Wohnungen bestehen aus nur 1 Zimmer
und dienen 6 und mehr Menschen zum Aufenthalt, ferner kommen
in 1 Fall auf 1 Raum und Küche 14 Personen
„ 14 Fällen auf 1 Raum und Küche 13 Personen
12
)) )) >1 ,>
” )) !! ))
,, „ immer noch 5 Personen
4
>> >> » )> ^ >,
u. s. w.
haben 137 268 Bewohner Wohnungen
mit nur 1 heizbaren Zimmer, 58 000 mit nur 2 heizbaren
Zimmern, s / 4 aller Bewohner sind in Wohnungen mit weniger
als 3 heizbaren Zimmern untergebracht.
Eine in Stuttgart vom Verein für das Wohl der arbeiten
den Klassen angeordnete Enquete hat ergeben, dass bei 1331
untersuchten Wohnungen insgesamt 5048 Köpfe nur 3317 Betten
und 199 andere Lagerstätten hatten, 30°/ 0 derselben hatten
also keine eigenen Lagerstätten, nur 329 dieser Wohnungen
hatten eigene Küchen, 75 waren ohne jede Kücheneinrichtung,
537 konnten nur in den Zimmern kochen, 352 haben gemein
schaftliche Küche und gemeinschaftichen Herd mit andern Fa
milien u. s. w., ferner hatten nur 219 dieser Wohnungen
eigene Aborte.
Auf den Kopf ergibt sich sehr häufig nur ein Luftraum
von 3 Kbm, 8—10 Kbm bilden den Durchschnitt, wobei Kinder
nur als halbe Personen gerechnet werden, und doch sollten als
Minimum pro Kopf 15 Kbm zur Verfügung stehen, wenn den
hygienischen Anforderungen auch nur einigermassen Rechnung
getragen werden soll.
Dass bei solchen Verhältnissen Unordnung und Verwahr
losung der Haushaltung und zuletzt Verwahrlosung der Menschen
selbst die Folge ist, ist erklärlich.
Sanitäre Vorschriften helfen nichts, wann nicht Gelegenheit
geboten ist, für schlechte Verhältnisse besseres zu bieten, sie
können unter Umständen die Wohnungsnot nur noch ver
größern.
Durch wen soll nun Abhilfe geschaffen werden
und wie?
In Betracht kommen: die private Bauspekulation, die Ar
beitgeber, der Staat, die Gemeinde, Baugenossenschaften, ge
meinnützige Vereine und Aktiengesellschaften.
>j ,» ,, x
127 „ „ 1
» 26371 „ „ 1
„ 38000 „ „ 1
In Breslau z. B.
Die Bauspekulation wirft sich mehr auf mittlere und
grosse Wohnungen, da diese viel leichter zu verwerten sind,
als kleine.
Die Verwaltung der kleinen Wohnungen bringt viel Unan
nehmlichkeiten mit sich, die Einnahmen sind unsicher, die Ver
käuflichkeit der Häuser ist gering.
Miethäuser für kleine Leute werden deshalb nur gebaut,
wenn bei grosser Nachfrage aus der Not der Mieter ein grosser
Gewinn gezogen werden kann.
Von der privaten Bauspekulation wird sonach eine Hilfe
nicht zu erwarten sein.
Häufig sind die Industriellen selbst am besten in der
Lage, für ihre Arbeiter zu sorgen und wo die betr. Fabrik-
Anlagen getrennt von grossen Städten liegen, wo deshalb
Grund und Boden noch mässig im Preis sind, wo namentlich
auch die Notwendigkeit, Arbeiter anzuziehen, dazu zwingt, sind
schon prächtige Anlagen von Arbeiterwohnungen geschaffen
worden.
Wo jedoch die Fabriken innerhalb grosser Städte liegen,
wo also leichter Arbeder zu bekommen sind, andererseits Grund
und Boden sehr teuer sind, auch ortsbaustatutarische Vorschriften
das Bauen verteuern, entschließen sich die Arbeitgeber nicht
leicht zum Bau von Arbeiterwohnungen, obgleich in den Städten
das Bedürfnis am brennendsten ist.
Der Staat kann und sollte, soweit er selbst industrielle
Anlagen besitzt, durch Musteranlagen bahnbrechend vorgehen,
im übrigen wird er nur indirekt fördernd eingreifen können,
aber auch so noch äusserst nützlich durch Erleichterung der
Bauvorschriften, durch Steuernachlass resp. durch eine Steuer
gesetzgebung, die die Gemeinden ermächtigt, unbebautes Bau-
terrain nach dem Wert zu besteuern. Anteile an den Wert
steigerungen der Spekulationsobjekte, die ohne Zuthun der
Besitzer erfolgten, sich zu sichern u. s. w., Massregeln, die
dazu dienen, die Spekulation mit Bauterrain einzudämmen;
ganz besonders aber durch Gewährung von Darlehen zu billigem
Zinsfuss aus den grossen staatlichen Versicherungsanstalten
und endlich durch Verbilligung der Eisenbahnfahrpreise und
Förderung des Lokalverkehrs.
Ein weites Feld zur Mitwirkung haben auch dieGemeinden,
sei es nun, dass sie für ihre eigenen Arbeiter Wohnungen er
stellen, oder dass sie durch Nachlass von Strassenbeiträgen,
durch Vorsorge für geeignetes Bauterrain bei Aufstellung von
Stadtbauplänen und entsprechende Bauvorschriften die Erstellung
von Arbeiter Wohnungen erleichtern.
Ganz ausserordentlich nutzbringend könnten sie aber da
durch eingreifen, dass sie zeitig, d. h. ehe durch Einbeziehung
in den Stadtbauplan die Preise in die Höhe spekuliert worden
sind, geeignetes Bauterrain erwerben und zu massigem Preis,
eventuell sogar zum Selbstkostenpreis unter Aufstellung be
stimmter Vorschriften für die auf den Plätzen zu erstellenden
Bauten, dasselbe an Unternehmer weiter verkaufen. Ein in
teressanter Versuch ist in Frankfurt a. M. eingeleitet; es soll
dort eine städt. Baukasse gegründet werden, aus der weitgehen
der Kredit auf die Erstellung kleiner Wohnungen gegeben wird,
ausserdem soll den Baulustigen Bauplatz in Form eines Erbbau
rechts bewilligt werden.
Auch für die Erleichterung des Nahverkehrs können die
Gemeinden eintreten.
Weitaus am ersprießlichsten haben bis jetzt die Bau
genossenschaften und die gemeinnützigen Vereine
gewirkt; erstere, indem sie auf dem Wege der Selbsthilfe als
Spar- und Bauvereine Wohngebäude erstellen, zum Teil sogar
in Regie, die letzteren durch Erstellung von Bauten oder durch
Unterstützung von Baugenossenschaften.
Es ist allerdings nicht zu verkennen, dass Baugenossen
schaften, deren Mitglieder zum überwiegenden Teil gering be
zahlte Lohnarbeiter sind, wegen der nötigen Kräfte für die Ver
waisung, wegen Gewinnung der Baugelder u. s. w. mit grossen
Schwierigkeiten zu kämpfen haben, dagegen haben solche Ge
sellschaften, die aus kleinen Beamten oder besser bezahlten
Arbeitern, Werkführern u. s. w. sich zusammensetzen, schon
schöne Erfolge erzielt.