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Wiirtlcinbü. Vereins für BauRunde
STUTTGART.
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5. Mai 1903
Inhalt: Vereinstätigkeit. — Die Entstehung der Erweiterungen des Donautals bei Riedlingen und Munderkingen. — Dauer eiserner Quer
schwellen auf deutschen Eisenbahnen. — Personalnachrichten.
Vereinstätigkeit
Seit geraumer Zeit steht die Frage, inwieweit von einer
schichtenabtragenden erosiven Wirkung der Gletscher gesprochen
werden dürfe, auf der wissenschaftlichen Tagesordnung. Von
einer vollständigen Lösung des vielumstrittenen Problems kann
heute noch nicht entfernt die Rede sein. Nach der, wenn man
sie so nennen darf, „radikalen“ Erosionstheorie sollen die Glet
scher befähigt sein, Längstäler und grosse Seebecken auszu
furchen und auszupflügen; sie hat in ihrer Einseitigkeit viele
Gegner auf den Plan gerufen und eine Theorie der „schein
baren Neutralität“ gezeitigt, die sich in der Hauptsache auf
physikalische Bedenken stützt. Nach ihr sind wohl Schram
mungen und partielle Abschleifungen durch das langsam fort
rückende Schleifmaterial zu erwarten, nimmermehr jedoch Aus
kolkungen. In neuester Zeit wurde der goldene Mittelweg ein
geschlagen. Es befestigt sich die Ansicht, dass die Gletscher
nirgends absolut wirkungslos über das Land hinweggehen, son
dern dasselbe überall abnützen, so dass sich die Meinungs
verschiedenheit heute nur noch auf den Grad der Erosions
fähigkeit der Eisströme erstreckt. Nach diesen Anschauungen
vermag ein Eisstrom keine Täler zu bilden, wohl aber vor
handene, insbesondere an Krümmungen, zu erbreitern und an
Gefällwechseln der Sohle auszufurchen, selbstverständlich umso
kräftiger, je weicher die anstehenden Schichten sind.
Es wird daher für die nächste Zukunft als eine Hauptaufgabe
zu betrachten sein, eine grössere Zahl glazialer Ausnagungen mög
lichst genau zu untersuchen und dabei neben den Oertlichkeiten
die Stärke, die Richtung und die Gefällswechsel der Eisströme,
sowie die Beschaffenheit des Materials der Talhänge und Sohle
aufs genaueste in Rechnung zu ziehen.
Eines der eigenartigsten Beispiele über Eiswirkungen bildet
nun ohne Zweifel das Ende des grossen Rheingletschers und
Am 18. April 1903: Sechste ordentliche Versammlung im Vereinsjahr 1902/1903. Mitteilungen des Herrn Baurat
Gugenhan über die Entstehung der Talerweiterungen der Donau bei Riedlingen und Munderkingen
während der ersten Eiszeit. — Mitteilungen des Herrn Bauinspektor Pantle über das vom städtischen Hochbauamt
Stuttgart erbaute Schulhaus in Ostheim.
Am 19. April 1903: Besichtigung des Schillermuseums in Marbach unter Führung des Erbauers Herrn
Baurat Eisenlohr-Stuttgart und des Archivars des Schillermuseums Herrn Dr. Müller-Marbach.
Die Entstehung der Erweiterungen des Donautals bei Riedlingen und Munderkingen
insbesondere dessen Teilstrecke Riedlingen-Sigmaringen, entlang
der das damals schon annähernd auf seine heutige Tiefe ero
dierte Donautal vom Eis und seinen Geschiebemassen über
schritten wurde.
Die Frage, wie und auf welche Weise die Gletscher
geschiebe über das vergl. 50 und mehr Meter tiefe Donautal
befördert wurden, hat meines Wissens bis heute kein Berufs
geologe in einwandfreier Weise beantwortet.
Herr Rektor Haag in Tübingen stellte in einer Veröffent
lichung, die im vorigen Jahre in den Jahresheften des Vereins
für vaterländische Naturkunde in Württemberg erschien, die
Hypothese auf, die Donauwasser seien bei Sigmaringen durch
die Eismassen aufgestaut und zeitweise über Spaichingen der
Prim und dem Neckar zugeflossen.
Da seit der Eiszeit im obern Donautal keine nennens
werten Höhenverschiebungen festgestellt sind, setzt diese Hypo
these einen Aufstau von mindestens 120 m Höhe voraus. Als
Hydrotechniker fühlte ich mich verpflichtet, die Annahme der
artiger, für die geologischen Verhältnisse von Oberschwaben
als undenkbar zu bezeichnenden Stauverhältnisse zu bekämpfen.
Denn ganz abgesehen davon, dass bei solch hohen Aufstau
ungen die Wasser längst zuvor über niedere Stellen am links
seitigen Talhange bei Sigmaringen ausgebrochen wären,
müssten sich Spuren dieses 70 km langen und lange Zeit vor
handen gewesenen Stausees, der sich auch weit hinauf in die
Seitentäler der Lauchert, Schmiecha und Beera, sowie in all die
unzähligen Seitentälchen hinein erstreckt haben müsste, in Form
von Uferlinien und Schlammablagerungen an besonders ge
schützten Stellen nachweisen lassen. Dazu kommt, dass das
obere Primtal bei Spaichingen ein etwa fünfmal so starkes Ge
fälle wie die Donau bei Tuttlingen hat, und dass daher die