Die dramatische Fiktion
Aber die »Erzählzeit« des Dramas soll in ‘Spielzeit’ umgesetzt werden,
das dramatische Werk aus dem Modus der Vorstellung in den der sinnlichen
Wahrnehmung übertreten und sich damit unter die Bedingungen der zeit
räumlichen Wirklichkeit begeben. Dies ist der Quellpunkt der Zeitdis
kussion über das Drama, die Ursache, daß die Zeit als Faktor der dramati
schen Kunst frühzeitig ins Bewußtsein trat, als ein Problem, dessen Lösung
mehr Sache der Bühnentechnik als der Dichtung selbst ist, ein dramatur
gisches mehr als ein dramatisches Problem 80 . Kein Zufall, daß es aktuell
erst in jener Epoche wurde, in der, wie D. Frey gezeigt hat, das Drama als
objektiv und vor allem bildhaft erlebtes Bühnen werk vom Zuschauer auf
genommen wurde 81 , als eine andere ästhetische (oder fiktive) Realität, die
von der seinigen abgetrennt war: in der Renaissance und - in völliger Aus
bildung erst - im Barock. Die klassische Einheitenproblematik ist im Fak
tum der Rahmenbühne fundiert, und zwar als Problem des Verhältnisses
der raumzeitlichen Wirklichkeit des ‘Parterres’ zu der freilich fiktiven, aber
gleichfalls ‘echten’ raumzeitlichen Wirklichkeit der Bühne, die ja sowohl als
abgetrennt wie aber doch auch im physisch-physikalischen Sinne als zuge
hörig zum Zuschauerraum erlebt und im Laufe der theatergeschichtlichen
Entwicklung behandelt wurde 82 .
Die klassische Diskussion sei hier nur deshalb kurz in die Erinnerung ge
rufen, weil gerade in den Denkfehlern, die sie barg, die mimetische Form
nicht nur der dramatischen Dichtung sondern auch der Bühnenwirklichkeit
ans Licht tritt. Es handelte sich bekanntlich um die Angleichung der fiktiven
Zeitdauer der Handlung an die reale Zeitdauer ihrer Aufführung, die für die
fünfaktigen Dramen der französischen Klassik zwei Stunden betrug. Als
Ideal stellt etwa Corneille, in seinem >Discours sur les trois unites< das Zu
sammenfallen dieser beiden Zeiten auf; und die keineswegs deutlich zum
Ausdruck gebrachte Voraussetzung dafür war, daß der Zuschauer die Wirk
lichkeit und damit Gegenwärtigkeit seiner Anwesenheit im Theater auf die
jenige der sich vor ihm abspielenden Handlung und agierenden Schauspieler
übertrage, daß vor allem diese selbst in dieser Wirklichkeit ständen. Gerade
aber in der noch als möglich zugegebenen, als wahrscheinlich erlebbaren
Differenz dieser Zeiten, die Corneille in diese Argumentation aufnimmt,
80. Dies hat bereits der italienische Renaissancepoetiker Trissino bemerkt, wenn er in seinem Werk :
Le sei divisioni della Poetica anläßlich der Aristotelischen Zeitbestimmung bemerkt, daß sie mehr „da la
representazione e dal senso che da Parte“ zu entnehmen ist (Zit. nach DFrey: Gotik und Renaissance.
Augsburg ’29, 200).
81. Sowohl im antiken Drama wie im mittelalterlichen Mysterienspiel empfand sich, wie DFrey
zeigt, die Zuhörerschaft als Mitspieler der Handlung, in der Antike repräsentiert durch den Chor, im
Mittelalter als Teilnehmer an den Prozessionen. Damit hängt es naturgemäß zusammen, daß „Raum
und Zeit des Zuschauers unmittelbar dem fiktiven Raum und der fiktiven Zeit des dramatischen Vor
gangs gleichgesetzt waren“ (213) und das Problem der Zeit- und Ortseinheit nicht entstand.
82. Vgl. dazu DFrey: Zuschauer und Bühne (in Kunstwissenschaft!. Grundfragen, Wien ’46)
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