Die fiktionale oder mimctische Gattung
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nomen, dessen Ursache technischer Art ist. Es ist nicht das photographische
Bild als solches, durch das der Film mit den literarischen Künsten verglichen
werden kann, sondern es ist das bewegte photographische Bild, durch das
dies möglich geworden ist. Was aber hat selbst das bewegte photographische
Bild mit Literatur zu tun? Indem wir diese Frage stellen, haben wir unser
Augenmerk freilich nicht mehr bloß auf das Darstellungsmittel der Epik und
Dramatik, die Sprache selbst, zu richten, sondern auf das, was durch sie er
zeugt bzw. dargestellt wird: menschliches Leben, handelnde Personen. Und
siehe da: die technisch abbildende Kunst, die Photographie, die höchstens
mit der Malerei in Vergleich und sogar Konkurrenz treten konnte, solange
sie nur unbewegte Dinge und Menschen zu photographieren vermochte,
trat, gleichfalls und in noch höherem Maße konkurrierend in den Bereich
der literarischen Kunst über, als sie bewegte Dinge und Menschen photo
graphieren konnte. Denn damit bemächtigte sie sich, wenn auch nur imi
tierend, eines der Geheimnisse des Lebens überhaupt, der Bewegung, und
konnte wie die literarischen Künste die Illusion, die Fiktion menschlichen
Lebens erzeugen.
Damit ist aber die Frage noch nicht beantwortet, was wir als Filmzu
schauer erleben. Diese Frage ist nicht etwa einfach dadurch beantwortet,
daß wir eben einen Film sehen. Diese Antwort hat nicht denselben eindeu
tigen Sinn, wie wenn wir sagen: wir lesen einen Roman, wir sehen oder lesen
ein Drama. Weder der Roman noch das Drama bedarf, als literarische Form
betrachtet, einer Erläuterung durch andere literarische Formen. Ein Roman
ist ein Roman, ein Drama ein Drama, und wir wissen unmittelbar aus wel
chen Gründen dies sich so verhält. Wenn wir aber einen Film sehen, können
wir fragen, ob wir einen Roman oder ein Drama sehen, d. h. wir bedürfen
zur Erhellung seiner literarischen Struktur anderer literarischer Formen,
eben des Romans und des Dramas. Dies nun tritt bereits in einer näheren
Analyse der Situation des Kinobesuchers hervor. Diese ist, wie bereits er
wähnt, zweifellos die des Zuschauers. Wir sehen und hören. Nun aber tritt
das Eigentümliche auf, daß wir uns zugleich auch in der Situation des Ro
manlesers befinden - sofern wir nun den Akzent auf den Begriff des Romans
nicht auf den des Lesers legen. Denn nicht alles was wir in dem Film sehen,
können wir auch auf der Theaterbühne sehen; aber wir können es in einem
Roman lesen. Wenn etwa die Sonne fern am Horizont langsam ins Meer
sinkt, wenn ein Flugzeug sich vom Boden hebt und am Himmelsraum ver
schwindet, wenn Paare durch weite Säle tanzen, Schneeflocken wirbeln und
sich auf Zweige und Gitter legen - dann sehen wir zwar etwas, aber wir
sehen etwas, das erzählt ist. Das bewegte Bild hat eine Erzählfunktion; es
ersetzt das Wort der epischen Erzählfunktion. Dies ist der Grund dafür, daß
wir im Film reine Milieus ohne Personen sehen können, während die Thea-