Full text: Die Logik der Dichtung

Einleitung 
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hat (in den Noten und Abhandlungen zum Westösdichen Diwan) und diese 
keineswegs an die traditionellen Gattungen gebunden sah, sondern »oft in 
dem kleinsten Gedicht« zusammenwirkend, hat man vor allem in der neueren 
Poetik sich diese Auffassung zu eigen gemacht. So gewann Emil Staiger 
neue Deutungsmöglichkeiten des Dichterischen, als er aus den traditionellen 
Formbegriffen das Lyrische, das Epische und das Dramatische als Verfesti 
gungen seelischer Grundhaltungen, als Erinnerung, Vorstellung, Spannung 
herausdestillierte. Und vor ihm hatte schon Robert Hartl die Gattungen zu 
Erlebnisformen, »Vermögen des Gemüts«, Gefühl, Erkenntnis- und Be 
gehrungsvermögen reduziert. 
Es ist ersichtlich, daß alle diese Bestimmungen, so feine Nuancen des 
Dichterischen als solche sie zu erfassen vermögen, doch selbst zuletzt nur 
Deutungen der vorliegenden Gattungsphänomene sind, Deutungen, die 
eben dadurch möglich wurden, daß die festen Gattungen in Erlebnis- oder 
Ausdrucksformen aufgelöst wurden. Dennoch aber sind die Gattungen feste 
Formen, die als solche zuletzt jeder Deutung, jeder Sinninterpretation 
widerstehen. Wir erfahren es unmittelbar, wenn wir ein Gedicht, einen 
Roman oder ein Drama lesen. Es mag der Roman uns noch so lyrisch 
anmuten, das Drama eine noch so ‘episch’ breite Handlung haben, das lyri 
sche Gedicht noch so ‘unlyrisch’ sein - es ist jeweils dennoch eine erzählende 
Dichtung, ein Drama, ein Gedicht, das unser Leseerlebnis lenkt und prägt. 
Die präsentierende Form ist die richtunggebende, unser Erlebnis einstel 
lende - nicht anders wie etwa ein historisches Werk, ein naturwissenschaft 
liches Lehrbuch von uns anders aufgefaßt werden als ein Roman. Wir er 
fahren das lyrische Gedicht in einer völüg anderen Weise als einen Roman 
und ein Drama, in einer so verschiedenen, daß wir die beiden letzteren un 
mittelbar nicht in demselben Sinne als Dichtung erleben wie das lyrische 
Gedicht, und umgekehrt. Und schon in dieser noch vorlogischen Betrach 
tung deutet sich an, daß für unser Erlebnis erzählende und dramatische 
Dichtung zusammenrücken gegenüber der Lyrik, diese sich uns auf einer 
ganz anderen Ebene unseres Vorstellungslebens präsentiert als jene. 
Es ist bisher in die Poetik der Gattungen, und auch in die Interpretation 
der einzelnen Dichtwerke, das Faktum nicht einbezogen worden, daß er 
zählende und dramatische Dichtung uns das Erlebnis der Fiktion oder der 
Nicht-Wirklichkeit vermittelt, während dies bei der lyrischen Dichtung 
nicht der Fall ist. Was aber als Erlebnis vermittelt wird, hat seine Ursache 
in den vermittelnden Phänomenen selbst. Die Phänomene sind die Lyrik, 
die Epik und die Dramatik, aber auch jedes einzelne Exemplar jeder dieser 
Gattungen. Die Ursache, daß die beiden letzteren das Erlebnis der Nicht 
wirklichkeit, die erstere aber das der Wirklichkeit vermitteln, ist nichts 
anderes als die logische und damit auch sprachliche Struktur, die ihnen zu
	        
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