Die filmische Fiktion
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der Scheidung und Unterscheidung der teils sprachlichen, teils darstellenden
Funktionen, die die Fiktionsgebilde erzeugen.
Wir glaubten auf diesem Wege zeigen und beweisen zu können, daß die
erzählte Fiktion aus dem gleichen dichterisch gestaltenden Antrieb hervor
wächst wie die dramatische (wie es schon Aristoteles gesehen hat), der Epi
ker primär nicht erzählt um des Erzählens willen, sondern um eine fiktive
Menschenwelt zu erschaffen - und dies unbeschadet der Tatsache, daß die
gestaltende Erzählfunktion sich scheinbar verselbständigen, sozusagen ihrer
fiktionserzeugenden Aufgabe vergessen kann. Daß dennoch das Strukturge
setzt der Fiktion sich rein bewahrt, und eben diese Verselbständigung als in
den meisten Fällen humoristischen Schein enthüllt, wurde zu zeigen versucht.
Und unter diesem Gesichtspunkt gehört auch die Filmfiktion in den lo
gischen Bereich der literarischen Fiktion, wenn auch an einen der epischen
und dramatischen nicht gleichberechtigten Platz. Auch sie ist als solche nicht
bedingt durch das technische Mittel der bewegten Photographie, das die
Erzählfunktion teilweise ersetzt, sondern gleichfalls durch den dichtenden
Mimesistrieb. Und damit sei nunmehr vorweisend, aber zugleich das Fik
tionskapitel abschließend, nochmals unsere einleitende Betrachtung über die
Begriffsbildung Dichtung und Wirklichkeit berührt. Der Gesichtspunkt der
Dichtungslogik, die das Thema dieses Buches ist, könnte es vergessen las
sen, daß die mimetischen Werke mehr sind als durch die Denk- und Sprach-
gesetze so und so strukturierte Gebilde, nämlich eben Dichtung, Kunst.
Mimesis ist das ästhetische Gesetz, unter dem sie stehen, das sie hervortreibt.
Mimesis heißt »Nachahmung« der Wirklichkeit, es ist das antike Wort für
Fiktion, wenn es auf literarische Gebilde angewandt ist, und es wurde ge
zeigt, daß schon Aristoteles eben diesen Sinn damit verbunden hat. Der Be
griff der Nachahmung hat in den Theorien der Poetik einen allzu naturali
stischen Anstrich bekommen. Verbinden wir mit ihm den Sinn der Fiktion,
der Nicht-Wirklichkeit und des Scheins, erweitert er sich und offenbart, daß
die Scheinwirklichkeit, die sich in den verschiedenen Arten der fiktionalen
Gattung mit verschiedenen gestalterischen Mitteln aufbaut, eben darum
weil sie Schein, Nicht-Wirklichkeit ist, die Seinsweise des Symbols hat. Die
Wirklichkeit selbst ist nur, aber bedeutet nicht. Nur das Nicht-Wirkliche hat
die Macht, das Wirkliche in Sinn, Bedeutung zu verwandeln.
Das Symbolsein der Fiktion gehört als solches nicht in die logische Be
trachtung der Dichtung. Aber wie es sich von dem Symbolcharakter der
zweiten großen Gattung der Dichtung, der lyrischen, unterscheidet, schließt
sich in bestimmterer Weise erst auf, wenn die logische Struktur der Dich
tung nicht verdeckt bleibt. Erst nach Betrachtung der lyrischen oder exi
stentiellen Gattung kann daher noch einiges auch über den Symbolcharakter
der fiktionalen Gattung gesagt werden.