Die lyrische oder existentielle Gattung
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3. So ist die echte Triebfeder der reinen praktischen Vernunft beschaffen: sie ist keine
andere als das reine moralische Gesetz selber, sofern es uns die Erhabenheit unserer eige
nen übersinnlichen Existenz spüren läßt... (Kant: Kritik der praktischen Vernunft)
4. Eine Gerade ist die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten.
3. Wie der Hirsch schreiet nach frischem Wasser, so schreiet meine Seele, Gott, zu Dir.
Meine Seele dürstet nach Gott, nach dem lebendigen Gott, wann werde ich dahin
kommen, daß ich Gottes Angesicht schaue?
Was betrübest du dich, meine Seele, und bist so unruhig in mir ? Harre auf Gott, denn
ich werde ihm noch danken, daß er mir hilft mit seinem Angesicht. (42. Psalm 2, 3, 4)
Diese Aussagen stammen also 1. aus einem Briefe, 2. aus einem Lehrbuch
der Geschichte, 3. aus einem philosophischen Werk, 4. aus einem Lehrbuch
der Mathematik, 5. aus dem Psalter. Sie bezeichnen verschiedene Stellen des
Aussagegebietes, genügend, um dieses in seiner in sich verschiedenartigen
Totalität bereits erkennen zu können.
Wir ersetzen nun den bisher gebrauchten Terminus Aussagegebiet oder
-System durch einen anderen, sachlich gleichbedeutenden, der jedoch den
Aspekt mehr hervorkehrt, den wir für die Bestimmung des Ortes der Lyrik
gebrauchen. Wir sagen, daß die obigen Aussagen in bestimmter Weise auf
der Skala der Wirklichkeitsaussage angeordnet sind. Denn das Aussage
gebiet selbst ist identisch mit dem Objekt der Aussage, und in einseitiger
Einstellung auf dieses würden wir den Korrelatbegriff, das Subjekt der Aus
sage, aus dem Blickfeld verlieren. Der allzu räumliche Begriff des Gebietes
(und allzu abstrakte des Systems) ist daher zu transponieren in den zunächst
bloß logischen der Aussage selbst, die definitorisch als Aussage eines Sub
jekts über ein Objekt (bzw. Sachverhalt), graphisch als eine zwischen diesen
beiden Polen sich erstreckende Skala dargestellt werden kann. Damit ist
dann statt der räumlichen eine lineare Bildlichkeit vermittelt.
Diese Skala bezeichnet also dieselbe begriffliche Einheit, die wir im vori
gen Kapitel das historische Erzählen genannt haben. Aber daß diese Be
zeichnung zu eng ist, zeigen bereits unsere neuen Beispiele an. Angesichts
ihrer erweitern wir den Begriff historische Aussage oder historisches Ich zu
den Begriffen theoretisches Ich und praktisches Ich. Dies bedeutet nicht,
daß etwa das eine Ich oder Subjekt in dem anderen aufgeht, sondern daß
wir auf der Skala der Wirklichkeitsaussage im wesentlichen diese drei Arten
von Aussagetypen unterscheiden können. Wenn wir terminologisch den
Subjektpol der Aussage durch die Bezeichnungen historisches Ich, theo
retisches Ich und praktisches Ich (oder auch Subjekt) hervorheben, so ge
schieht das mit Rücksicht gerade auf die verschiedenen Arten von Wirklich
keit, auf die sich eine Aussage als auf ihren Objektpol richten kann. Das