Full text: Die Logik der Dichtung

Die Beschaffenheit des lyrischen Ich 
selbst als das mit seiner Aussage Identische. Und eben dies ist die logische 
Ursache dafür, daß wir zwischen dem lyrischen Ich und dem Dichter-Ich 
nicht scheiden und unterscheiden können. Was wir als lyrisches Phänomen 
erleben, ist immer die Wirklichkeit der jeweiligen Existenz, die immer un 
mittelbar zu uns ist. Hier ist die Liebe, die Klage, die Frage an Gott und 
Welt, die naive, die sentimentalische, die symbolische, realistische oder 
surrealistische Schau von Ding, Natur, Mensch, Welt und Überwelt - un 
mittelbare Aussage, unmittelbare Existenz. 
Sprechen wir dies aus, erhebt sich sogleich ein berechtigter Einwand vom 
ästhetisch-stilistischen Standpunkt der Betrachtung her, dem zu begegnen 
willkommene Gelegenheit bietet, das Problem des lyrischen Ich noch schär 
fer zu konturieren. Gegen die Behauptung, daß wir im lyrischen Gedicht 
der ‘unmittelbaren’ Aussage des lyrischen Ich gegenüberstehen, kann so 
wohl auf manche Selbstaussagen der Dichter, daß »ein Gedicht gemacht 
wird« 18 , wie jedes Kunstgebilde, als aber vor allem auch auf das Vorhanden 
sein der Lesarten, der Dichtermanuskripte (die dieses Wort bestätigen wür 
den) hingewiesen werden. Denn diese zeigen eine unaufhörliche stilistische 
Arbeit des Dichters an seinem Gedichte, die den Begriff des ‘Unmittelbaren’ 
seiner Aussage als sehr fraglich erscheinen läßt. Beißners Hölderlin-Aus 
gabe bietet eins der sprechendsten Belege dafür, wie ein Gedichtwerk, das 
uns mehr als jedes andere die existentielle Tiefe einer reinen, der reinsten 
Dichterseele unmittelbar erlebbar werden läßt, der ausdrucksuchenden, 
wortbildenden Arbeit des Dichters unaufhörlich unterworfen gewesen ist. 
Und fast noch deutlicher tritt uns diese Tatsache in unvollendet gebliebenen 
Gedichten entgegen. Im dritten Bande der >Barocklyrik< ist ein un 
vollendetes Jugendgedicht Johann Christian Günthers >Der Abriß seiner 
Liebstem abgedruckt, dessen 7. Strophe sehr aufschlußreich für diese Ver 
hältnisse ist: 
Die Wangen sind ein Feld, wo Rosen und Jasmin 
Einander zur Verhöhnung blühn. 
Und wo viel Gratien und . . . Amoretten 
Theils ihren Schlaf. . . betten, 
Theils wie ein Bienenschwarm, wenn er den Klee beraubt 
. . . begierig sind, den Honigseim zu lecken, 
Den nur die Götter schmecken, 
Weil ihn die Kostbarkeit dem Menschen nicht erlaubt. 
Die Lücken zeigen, daß hier nach einem Wort gesucht wurde, das nicht nur 
ein adäquater Sinnausdruck sein, sondern zu Versmaß und Stil sich fügen 
sollte, eben die Arbeit, die es bedeutet, ein Gedicht zu ‘machen’. Und diese 
16. Gottfried Benn: Probleme der Lyrik. Wiesbaden *51, 6
	        
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