Die lyrische oder existentielle Gattung
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mittelbar gegenüberzustehen, in Bezug auf das gerade nicht, wie man gel
tend gemacht hat, die Vorstellung von Schein, Fiktion, Illusion erregt wird 18 ,
sondern die einer erlebten Wirklichkeit, wie ‘unwirklich’, d. i. wie traum
haft, visionär, metaphysisch, geistig diese auch sich in der Lyrik darstellen
mag.
Daß auch das Futurum in der lyrischen Aussage erscheinen kann, bedarf
der Begründung nicht mehr. Alle Tempora sind auf das Jetzt und Hier des
lyrischen Ich bezogen, und es ist allein von der Art der lyrischen Aussage
abhängig, ob und bis zu welchem Grade dieses Jetzt und Hier als das ‘histo
rische’ des Dichter-Ichs erkannt werden kann. Denn der objektive Wirk
lichkeitsgehalt, der im Gedicht erscheinen kann, ist verschiedenen Grades.
Dies ist kein Widerspruch zu der lyrischen Strukturdefinition, daß die Aus
sage nicht objektbezogen ist. Der graduell verschiedene Wirklichkeitsgehalt
beruht auf dem Grade der Existenzwirklichkeit des lyrischen Ich, ohne daß
dieses seine Haltung als lyrisches Ich dabei aufgäbe. Nur darum handelt es
sich hier, herauszuarbeiten, daß das lyrische Ich kein fiktives Ich ist. So ist
etwa das große Klagegedicht des Andreas Gryphius >Über den Untergang
der Stadt Freystadt< ein lyrisches Gedicht, dessen Ich man gewiß nicht ver
sucht ist, als ein fiktives oder fingiertes zu bezeichnen. Denn der Wirklich
keitsgehalt ist hier so groß, daß die Strukturdefinition der lyrischen Aussage
kaum noch darauf zuzutreffen scheint. Der Objektbezug ist weitgehend er
halten und widersteht in seiner grausamen Wirklichkeit, als ein Ereignis des
30 jährigen Krieges, der völligen Verwandlung in eine nur subjektiv-existen
tielle Wirklichkeit des lyrischen Subjekts. Und in diesem Gedicht erscheinen
denn auch alle Tempora in ihrer natürlichen Bezogenheit auf das sogar zeit
lich annähernd zu bestimmende Jetzt und Hier des lyrischen Ich, das wir nur
mit größter Künstlichkeit vom ‘redenden Dichter-Ich’ trennen könnten.
Hier gibt das Präsens den jetzigen zerstörten Zustand der Stadt an:
Was soll ich mehr noch sehn ? Nun grimme Pestilenzen
Nun bleiche Hungersnot verwüstet deine Grenzen.
Das Präteritum schildert die vorhergegangene Belagerung und Zerstörung;
und geht dabei ins historische Präsens über:
Die Sonne war gewichen
Der Himmel stund besternt und Morpheus kam geschlichen
Mit seiner Träume Schar . . .
j j j , ... Die schnelle Luft ersaust,
n n & t \ I 1 Der Monden fleucht bestürzt, der Winde Wüten braust
Und Freystadt kracht im Brand
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