Die logischen Grundlagen
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tät Bezug genommen, ohne daß diese in ihrer Realität dargestellt wird, »die
intentional entworfenen Sachverhalte völlig mit den wirklichen zur Deckung
gebracht werden«. 29 Der Romancharakter des historischen Romans, damit
aber des Romans überhaupt, ist schon dadurch völlig verkannt, daß die als
historisch bekannte Wirklichkeit, die der Stoff dieser Romane ist, dichtungs
theoretisch für eine andersartige gehalten wird als jede andere in Romanen
gestaltete Wirklichkeit (wie wir unten näher darlegen werden). Und diese
Verkennung tritt noch deutlicher hervor, wenn gemeint wird, daß man
einen historischen Roman von einem wissenschaftlichen historischen Werk
nur durch die Quasi-Urteile unterscheiden könne, daß zwischen beiden ein
Übergang von Quasi-Urteilen zu echten Urteilen stattfinden und damit aus
einem historischen Roman ein wissenschaftlicher historischer Bericht wer
den könne. »So entsteht (im Roman) vor unseren Augen die längst ent
schwundene und nichtig gewordene Vergangenheit in den nun intentiona
len, sie verkörpernden Sachverhalten wieder, aber sie ist es nicht selbst, die da
beurteilt wird, weil der letzte Schritt noch fehlt, der die quasi-urteilsmäßigen
Behauptungssätze von den echten Urteilssätzen trennt. . ., der Schritt der im
Modus des vollen Ernstes vollzogenen Setzung. Erst mit dem Übergang
zur wissenschaftlichen Betrachtung oder zu einem schlichten Erinnerungs
bericht wäre dieser letzte Schritt vollzogen, aber damit bekäme man auch
die echten Urteilssätze«. 30 Es ist gewiß schwierig, sich nach dieser Beschrei
bung einen historischen Roman vorzustellen. Sie macht aber besonders deut
lich, daß mit dem Begriffe des Quasi-Urteils keineswegs die sprachlich-lite
rarische Struktur und spezifische Erscheinungsform des Romans beschrie
ben ist, sondern nichts anderes als eine unbestimmte psychologische Hal
tung des Autors und entsprechend des Lesers: die Modi des vollen resp.
nicht vollen Ernstes, d. i. die Einstellung, die dem historischen Roman
(aber auch Drama) gegenüber eine andere ist als dem historischen Bericht
gegenüber. Erst die Untersuchung der Sprachfunktionen wird zeigen, daß
zwischen einem historischen Roman und einem historischen WirklichkeitST
bericht niemals ein Übergang stattfinden kann und daß es die bei Ingarden
unbeachteten ‘verkörpernden’, nämlich mimetischen Sachverhalte sind, die
dies unmöglich machen. Wenn aber Ingarden seine Theorie von den Quasi-
Urteilen als den das ‘literarische Kunstwerk’ begründenden Phänomenen mit
Rücksicht auf den historischen Roman modifizieren muß, so zeigt dies schon
an, daß die Theorie falsch und auf eine Scheinproblematik gegründet ist.
Sowohl in Croces wie in Ingardens Theorien über die Sprachmaterie der
Dichtung und damit die Dichtung selbst ist die Sprache nur scheinbar in
ihrer dichtungskonstituierenden Beschaffenheit erfaßt und beschrieben, und
29. ebd. S. 179
30. ebd. S. 180