Die epische Fiktion
den Sachverhalte’, die in Ingardens Theorie von den Quasi-Urteilen über
sehen sind: es ist der Prozeß der Fiktionalisierung, der jeden noch so histo
rischen Stoff eines Romans zu einem nicht-historischen macht.
Diese Verhältnisse aber, die wir hier nur beispielsweise aus dem Zusam
menhang fiktiver Datierungen mit dem epischen Präteritum entwickelten,
gelten keineswegs nur für historische Romane, sondern auch für historische
Dramen. Eben damit wird es ganz einsichtig, daß das Präteritum der Er
zählung nichts mit einem historischen oder sonst durch Zeitangaben cha
rakterisierten fiktionalen Stoff zu tun hat. - Wird dies aber in dieser gene
rellen Form ausgesprochen, können sich Einwände vornehmlich mit Rück
sicht auf eine besonders der Moderne zugehörige Romanart erheben, die
gerade den Vergangenheitstheorien als Gegenbeweis gegen unsere Nach
weise dienen könnte: solche Werke, in denen das Vergangensein des Erzähl
ten besonders betont oder geradezu thematisch wird. In der deutschen Lite
ratur vertreten z. B. Thomas Manns >Josephsroman< und Robert Musils
Roman >Der Mann ohne Eigenschaften< diesen Typus, wenn auch auf je
sehr verschiedene Weise. Thomas Manns sozusagen humoristisch-methodi
scher Ausgangspunkt und Kunstgriff ist der Gesichtspunkt, unter den er
sein Erzählen stellt: die Josephslegende zu ungeahntem Leben zu erwecken
und zu vergegenwärtigen, sie aber zugleich in ständiger Kommentierung
zum Objekt einer historisch-psychologischen Erkenntnis zu machen 23 . Auch
Musil hält durch den besonderen Stil seines Erzählens das Bewußtsein stän
dig wach, daß dieser zeitsatirische Roman im Rückblick auf die nunmehr
vergangene Epoche „Kakaniens“ (der k.k. österreichisch-ungarischen Mon
archie) geschrieben, das Jahr 1913, in dem er spielt, als vergangen zu be
trachten ist, und das Zentrum der Handlung, die »Parallelaktion«, die das
im Jahre 1918 fällige Regierungsjubiläum Franz Josephs vorbereitet, ist
eben deshalb bereits an sich auch das zeitsatirische Zentralobjekt. Aber in
beiden Werken ist das Bewußtsein des Vergangenseins, ja des historischen,
bzw. mythischen Geschehen-Seins nicht etwa dem Präteritum zuzuschrei
ben, in dem sie wie alle epische Dichtung erzählt sind. Gewiß ist in einem
Satze des Musilschen Romans wie diesem: »Walter und er waren jung ge
wesen in der heute verschollenen Zeit kurz nach der letzten Jahrhundert
wende, als viele Leute sich einbildeten, daß auch das Jahrhundert jung sei.
Das damals zu Grabe gegangene hatte sich in seiner zweiten Hälfte nicht
gerade ausgezeichnet« (I. Teil, Kap. 15) eine Zeitdistanz des Erzählers qua
Autor zu der Handlung seines Romans ausdrücklich gemacht. Aber das ge
schieht durch den Wortlaut selbst - »in der heute verschollenen Zeit, das
damals zu Grabe gegangene« -; das Erzählen gibt sich hier den Schein
eines historischen Berichtes, der in diesem Werke die Funktion hat, den
23. Näheres in meinem Buch: Thomas Manns Roman >Joseph und seine Brüden. Stockholm ’45