Die fiktionale oder mimetische Gattung
wir aber als solche nur von einem eigenen realen Hier, nicht aber von dem
fiktiven Hier fiktiver Gestalten vorstellbar machen können. Damit fällt nun
von den räumlichen Adverbien ein schärferes Licht auch auf die zeitlichen.
Auch die Angaben: heute, morgen usw. haben in der Fiktion gerade um
ihres deiktischen Ursprungscharakters willen nur die Funktion verblaßter
Begriffssymbole, von denen wir wissen, daß sie zeitliche Verhältnisse be
zeichnen, die wir aber als existentielle Zeit nicht erleben oder erfahren kön
nen. Sie können in der Fiktion fehlen, ohne daß die Illusion des Jetzt da
durch gestört würde, ebenso wie die Raumdeiktika dort fehlen können,
ohne daß die Illusion des Hier der Handlung und damit der Gestalten ge
stört würde. Das Jetzt- und Hier-Erlebnis, das uns die Fiktion (die epische
und, wie wir sehen werden, ebenso auch die dramatische und filmische)
vermittelt, ist das Erlebnis der Mimesis handelnder Menschen, d.h. der
fiktiven, aus sich selbst lebenden Gestalten, die eben als fiktive nicht in der
Zeit und im Raume sind - auch wenn eine geographisch oder zeitlich be
kannte Wirklichkeit montagemäßig der Romanschauplatz ist. Denn das
Wirklichkeitserlebnis ist nicht durch die Sache selbst, sondern durch das
erlebende Subjekt bestimmt. Ist aber dieses fiktiv, so wird jede als solche
gewußte geographische und geschichtliche Wirklichkeit in das Fiktions
feld hineingezogen, in ‘Schein’ verwandelt. Und weder Autor noch Leser
braucht sich dann darum zu kümmern, ob und inwieweit die ihm bekannte
Wirklichkeit mit Zügen ausgestattet ist, die über diese phantasiemäßig hin
ausgehen. Dies ist die letzte, jedem Romanleser vertraute Konsequenz aus
den Funktionen, die die Logik der Sprache vollzieht, wenn sie ein Fiktions
und kein Wirklichkeitserlebnis erzeugen will.
Die Beschaffenheit der Eryählfunktion
Wir haben bisher die Erscheinungen aufgezeigt und zu begründen ver
sucht, die die Ursache dafür sind, daß wir beim Lesen eines Romans das
Erlebnis der Nicht-Wirklichkeit, eben der Fiktion, haben. Daß dies ebenso
der Fall ist beim Lesen und Sehen eines dramatischen Werks, ist bereits
mehrfach betont worden. Aber zur primären logischen Erhellung dieses
Phänomens bietet nur die epische Fiktion die logisch-sprachlichen Möglich
keiten, von denen aus erst in abgeleiteter Weise die Verhältnisse in der dra
matischen geklärt werden können. Es ist das sItteIv der epischen Dichtung,
das ihr eigentümliche Sagen, Erzählen, Mitteilen, das diese logischen Pro
bleme birgt und darum als Ausgangspunkt einer exakten sprachtheoreti-
schen Beschreibung des Dichtungssystems am fruchtbarsten ist.
Die eigentlich entscheidende Frage nun nach der Beschaffenheit des epi
schen Erzählens ist noch nicht beantwortet. Wir haben bisher nur die Phä-
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