Die epische Fiktion
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nomene zu beschreiben und zu erhellen versucht, die erkennen lassen, daß
das epische Erzählen von kategorial anderer Art ist als das historische
(im weiteren Sinne die Wirklichkeitsaussage). Ausgehend von dem Ver
halten des erzählenden Präteritums sind wir bisher vorgestoßen zu dem
strukturellen Moment, das die Ursache sowohl für die Bedeutungsver
änderung des Präteritums (zum bloßen Substrat) wie der deiktischen Ad
verbien ist, und das als solche geradezu die Fiktion wesensmäßig konsti
tuiert: das Verschwinden einer realen Ich-Origo und damit die Übertragung
des realen Raumzeitsystems auf die fiktiven Personen, die - was aber das
selbe ist - ihrerseits die Ich-Origo bzw. Ich-Origines des fiktiven Raumzeit
systems, d.i. des Nicht-Wirklichkeitssystems darstellen. Damit haben wir
zwar schon die Phänomenologie des fiktionalen Erzählens weitgehend dar
gelegt, aber noch nicht die letzte und entscheidende Ursache dieses beson
deren Verhaltens festgestellt. Wiederum ermöglicht uns ein vergleichender
Blick auf das historische Erzählen, dies mit logisch-erkenntnistheoretischer
Exaktheit tun zu können.
Wir legten oben an Hand unseres Ausgangsbeispiels 2, des Rilkebriefes,
dar, was unter einer Wirklichkeitsaussage zu verstehen ist. Ihr Inhalt oder
ihr Objekt erweist sich als wirklich, weil es in einem Dokument ausgesagt
ist, das sich als eine Wirklichkeitsaussage, ein historisches Dokument prä
sentiert. Darin aber ist die Bedeutung impliziert, daß der Inhalt der Wirk
lichkeitsaussage unabhängig davon, ob er Gegenstand einer Aussage ist oder
nicht, existiert bzw. existiert hat. Als Gegenstand der Aussage ist er aber
damit zugleich auch auf das aussagende Subjekt bezogen, erweist sich als
dessen Erlebnisfeld - und die Kontrolle dieser Beziehung geht darum in jede
historische Wissenschaft ein, deren Aufgabe es ist, die natürliche und ge
schichtliche Wirklichkeit zu beschreiben. All dies besagt aber nichts anderes
als daß wir von einer echten Aussage, der Aussage eines Subjekts über ein
Objekt, nur im Falle der Wirklichkeitsaussage sprechen können. Hier be
steht stets ein angebbares Verhältnis zwischen Aussagesubjekt und Aus
sageobjekt, eine Relation. Dabei ist es das Subjekt, das über den Grad der
Wirklichkeit des Objekts, d.i. die Objektivität der Aussage entscheidet.
Auch wenn, wie (S. 24) bereits dargelegt, der Grad der Wirklichkeit des
Objekts, d.i. der Unabhängigkeit vom Subjekt, sich Null, d.i. der Unwirk
lichkeit nähert, ist die Relation zwischen Subjekt und Objekt nicht aufgeho
ben, ist der Wirklichkeitsbereich des aussagenden Subjekts prinzipiell nicht
verlassen. Denn immer kann die Aussage als solche der Verifizierung unter
zogen werden, die über den Wirklichkeitsanspruch der Aussage entscheidet.
Diese Beschreibung der echten Aussage, die wir unten für unsere späteren
Zwecke noch weiterzuführen haben, mag für jetzt genügen, um erkennen
zu lassen, daß es sich beim fiktionalen Erzählen nicht um ein echtes Aussagen