Full text: Bauzeitung für Württemberg, Baden, Hessen, Elsaß-Lothringen (1906)

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BAUZEITUNG 
NR. 13 
daß es so ist, wie es ist, allmählich schwindet die Reflexion 
und, ohne daß man’s weiß, tiht es nun seine wahre Wirkung. 
So kann von einem solchen Werke aus der Maßstab für 
künstlerisch-natürliche Auffassung stark beeinflußt werden, 
und deshalb wollen wir uns gerade an öffentlicher Stelle 
jeder Arbeit freuen, die aus freiem Gefühl geboren ist.“ 
Geh. Hofrat Professor Dr. Cornelius Gurlitt - Dresden 
äußert sich ausführlich folgendermaßen: 
„In Fragen der Sittlichkeit im Nackten habe ich wohl 
manche Entrtistungsschreie von beiden Seiten, aber noch 
nichts gelesen, was mir die Frage halbwegs erschöpfend 
zu behandeln scheint. Daß nicht alles Gold ist, was 
nackt ist, wissen Sie so gut wie ich. Und daß nicht 
alles Schmutz ist, was nackt ist, wissen wir auch. ,Dem 
Reinen ist alles rein!' sagen die einen. ,Nur das Un 
sittliche enthüllt sich!' sagen die andern. Beide schließen 
aus ihren Leitsprüchen auf die Kunst, verhöhnen die 
Prüden oder verketzern die sich rein Dünkenden. Ich 
glaube nicht, daß für unsre Moral, so wie sie einmal aus 
unsrer Kultur sich ergab, die Frage so einfach liege. 
Es sind die Dinge vielmehr ebenso schwierig zu lösen 
wie beim Duell! Auch hier verurteilt jeder nach seinen 
Allgemeinanschauungen den Gegner als Mörder oder als 
Feigling. Durch die Schärfe der Worte wird die Sache 
aber nicht geklärt, sondern nur verwirrt. 
Man hört so oft die Griechen als Kronzeugen sittlicher 
Nacktheit aufrufen: Sie haben sie in der Kunst und hatten 
sie wohl auch im gesellschaftlichen Leben. Diese Nackt 
heit haben wir aber nicht. Ich weiß nicht, wie es andern 
ergeht — ich wenigstens fühle mich selbst im Herren 
bade bis zu einem gewissen Grade ,geniert'. Das heißt: 
Der Anblick nackter Körper hat etwas Befremdliches für 
mich, obgleich ich deren 
mehr sah als der Durch 
schnittsmensch. Das weiß 
jeder, der im Zeichensaal 
den nackten Menschen 
kennenlernte. Man braucht 
sich nicht zu scheuen, dort 
ein schönes Weib jungen 
Männern vorzuführen. Die 
Nacktheit hat eine eigen 
artige Strenge, die eher 
erschreckt als reizt. Da 
her wohl auch bei uns die 
Scheu vor demNackten im 
gesellschaftlichen Leben. 
Ich weiß nicht, ob man 
mir einen Yorwurf von 
seiten ästhetisch Denken 
der machen wird, wenn 
ich mich selbst nicht als 
ästhetisch genug anschul 
dige, als daß ich gerne 
sehen würde, wenn an 
einem warmen Sommer 
tage einer meiner Tisch 
gäste — Männlein oder 
Weiblein —hei mir nackt 
erschiene. Das wäre mir 
unangenehm — sei der 
Nackte so schön und so rein 
er wolle —,und zwar nicht 
bloß vor Frau, Kindern 
und den andern Gästen — 
sondern vor mir selber. 
Andre mögen anders den 
ken ; ich aber bin nicht 
ästhetisch genug erzogen, 
um hier das Reine ohne 
peinliche Nebenempfin- 
dungen zu betrachten. 
Und solange das gesellige Leben uns das Nackte nicht 
bietet, ist der Vorwurf an die Kunst nicht unberechtigt, 
kann ich in diesem Yorwurf nicht ,Banausentum' glatt- 
weg erkennen. Ich meine, daß wir allen Grund haben, 
uns zum Anschauen des Nackten zu erziehen. Ich halte 
die Kunst für ein vortreffliches Mittel hierzu und kann 
mir wohl nachrühmen, daß mich das Nackte in der Kunst, 
also nachdem es durch Auge und Hand eines ernsten 
Künstlers gegangen ist, nicht stört, auch nicht dort, wo 
dem Künstler sinnliche Gedanken die Hand lenkten, 
denn die Sinnlichkeit ist auch ein künstlerisch berech 
tigtes Motiv der Natur oder, im Tone der andern ge 
sprochen, etwas von Gott Eingesetztes, etwas unserm 
Herzen als notwendige Grundlage für das Bestehen der 
Menschheit Gegebenes. Es ist Torheit, zu fordern, daß 
dies sich in der Kunst nicht äußern dürfe. Es wird 
heimlich erscheinen, wenn man es aus der Oeffentlichkeit 
verdrängt. 
Und weil dem so ist, weil einerseits die Schönheit, weil 
die Kunst unmöglich ist ohne das Nackte, weil ander 
seits für uns das Nackte im gesellschaftlichen Leben 
notwendigerweise fehlt, also von der Ungeheuern Mehr 
heit der künstlerisch nicht Gebildeten als eine fremde, 
überraschende und daher ,genierende' Erscheinung 
empfunden wird, muß ein Ausweg gesucht werden. Ich 
sehe den Ausweg darin, daß wir das Nackte durch die 
Kunst so oft wiedergeben, als nur immer möglich. Nur 
die Angewöhnung an den Anblick des Nackten kann uns 
und kann namentlich unsre Kinder davor bewahren, es 
mit den Augen der Lüsternheit zu betrachten. Denn im 
allgemeinen wirkt das offen Gebotene nicht lüstern: Nicht 
das Verstellen ist sittlich! Sonst wäre die türkische Frau 
die sittlichste. Lüstern 
wirkt das Aufdecken, das 
Unerlaubte: Man sieht 
einer Dame nach, die das 
Kleid zu hoch hebt, man 
würde ihr nicht nach- 
sehen, gingen die Frauen 
alle in Kniehosen. Der 
vollkommene Mangel an 
Lüsternheit in der Er 
scheinung würde zweifel 
los nur durch vollkom 
mene Nacktheit erzielt 
werden können. Die voll 
kommene Reinheit in der 
Kunst wird erzielt da 
durch, daß das Nackte 
nirgends mehr auffällt, 
weil es überall uns ent 
gegentritt. Solange diese 
Angewöhnung nicht er 
reicht ist, wird eine Zwie 
spältigkeit im Urteil nicht 
zu vermeiden sein. Ich 
habe mit großer Freude 
den Billingschen Brunnen 
in Karlsruhe gesehen! Er 
scheint mir ein vorzüg 
liches Mittel zur Unter 
richtung des Volkes in der 
Richtung, daß es künst 
lerisch zu sehen lernt. 
Aber die, die das noch 
nicht lernten, werden ge 
wiß am Brunnen Anstoß 
nehmen. Sie sind nur da 
durch zu überführen, daß 
man der Kunst ein brei 
teres Feld im öffentlichen 
Leben bietet. Nicht ihr 
Das Trauzimmer im Rathause zu Heilbronn von Arnberg. Aus 
Nummer 48 des II. Jahrganges der Bauzeitung
	        
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