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BAÜZE1TUNG
Nr. 30
nutzen wenig, wenn die Poesie, oder sagen
wir der Charakter, nicht schon in dem
ausgestatteten Raume steckt; alle richtige
Ausstattung sucht nur diesen immanenten
Raumcharakter noch deutlicher zu betonen.
Die Abmessungen der Größenverhältnisse
des Raumes, seine Deckengestaltung, die
Art, wie Ausbauten etwa die geraden
Linien in Kurven unterbrechen, die Art,
wie das Licht in den Raum einfällt und
wie die Tür zum Raum liegt, die Art, wie
sich die Durchblicke von diesem Raum in
die Nachbarzimmer ergeben, wie die Räume
in ihrer Gestaltung sich kontrastieren oder
steigern, das sind die Momente, die einem
Bau sein eigentliches Leben geben. Wir
begnügen uns heutzutage nicht mehr mit
stattlichen Dimensionen und richtig sitzen
den Achsen, mit einer normalen Fenster
bankhöhe von 85 cm im ganzen Hause und
Fenstern im staatlich vorgeschriebenen Ver
hältnis von 1 zu 2, sondern, indem wir
diese Dinge einem Raume ganz besonders
anpassen, geben wir ihm seine eigne In
dividualität und drücken ihm von vorn
herein den Stempel des Behaglichen oder Festlichen, des
Heiteren oder des Ernsten auf, eine Grundstimmung, die
dann vor allem durch -die Farbengebung weitergeführt
werden muß.
Alle diese Momente aber, die wir hier angedeutet haben,
die technischen Komplizierungen und die ästhetischen
Differenzierungen, sie alle wirken zu einem Schluß un-
abweislich zusammen: sie sind nur erreichbar innerhalb
einer starken Freiheit in den äußeren Ausdrucksmöglich
keiten der Form, sie sind nicht erreichbar oder doch
nur mit großer Unnatur erreichbar, wenn Rücksichten
auf historisch-stilistische Formengebung sie einzwängen,
sie führen logisch und sicher auf eine Gesamtgestaltung,
deren Gesetze nur in einer strengen Sachlichkeit und
vollen Natürlichkeit liegen, in der Art, wie die inneren
Bedürfnisse sich nach außen darstellen. Das bedingt
zunächst nicht neuePormen, sondern neue Gruppierungen.
Die künstlerische Reife eines solchen modernen Haus
organismus wird sich nach außen aussprechen in dem
Maß, wie eine solche Gruppe natürlich und zugleich reiz
voll erscheint, wie Silhouette und Schattenmassen einen
organischen Rhythmus ergeben und wie die Flecke der
Fenster ungezwungen die Fläche
beleben. An sich fordert all das
noch immer nicht zu neuen Formen
gebungen heraus; wir sehen am
englischen Wohnhaus, daß solche
Lösungen in künstlerischstem Ein
druck möglich sind, ohne jede klassi-
lizierbare Form, aber indirekt wirkt
diese ganze Entwicklung doch auch
auf das Ziel individueller Formgebung
ein, auf das andre Gründe in andern
architektonischen Aufgaben unsrer
Zeit so gebieterisch führen. Durch
das Zurücktreten der Architektur
formen als gleichmäßige Beherrscher
des Ganzen werden wir um so an
spruchsvoller den wenigen heraus
gehobenen Punkten gegenüber, die
uns Formen zeigen. Jedes Portal,
jedes Gitter, jeder Erker, jede
Fensterteilung beginnt einen eignen
Daseinsanspruch zu bekommen und
ist noch nicht befriedigend, wenn
sie nur wie bei historischen Gestal
tungen in das System des Ganzen
Wohnhaus in Stuttgart, Ecke der Post- und Calwerstraße
herei'npaßt; solche Dinge müssen wirken wie besonders
gewählte köstliche Schmuckstücke. Dies Pflegen des
künstlerischen und kunstgewerblichen Details im Sinne
einer individuellen und verfeinerten Kunst ist eine der
wertvollsten Seiten dessen, was die ernstzunehmenden
„Modernen“ anstreben. (Schluß folgt)
Alte Stuttgarter Architekturen
Alt-Stuttgart, das heißt die Gegend des Stuttgarter
Marktplatzes, verändert sich in überraschend schneller
Weise. Ganze Straßen sind niedergelegt, und schon
werden die Fundamente zu neuen Bauten hergestellt.
Auch die Legionskaserne wird in kurzer Zeit vom Erd
boden ganz verschwunden sein, und der Stuttgarter sieht
mit Erstaunen, welch stattliche Grundstücksgröße von
diesem Bau umschlossen wurde. Die Altstadtbebauung
liegt zum Glück in Händen erster Architekturfirmen, die
alles daransetzen werden, ein freundliches neues Stadt
bild zu schaffen. Erfreulicherweise werden die neuen
Straßen nicht mit Winkel und Reißschiene geschnitten
sein, sondern durch ungesuchte, sich ergebende Unregel
mäßigkeiten reiche Gelegenheit zu
malerischen Motiven bieten. Wir
werden späterhin eine Reihe der be
treffenden Neubauten veröffentlichen.
Wie hätte man wohl vor 20 bis
30 Jahren diese Stadtteile wieder
aufgebaut!? Von unsern noch er
haltenen, immer seltener werdenden
alten Wohnhäusern, an denen der
Laie oft verständnislos vorübergeht,
geben wir heute einige reizvolle Ab
bildungen. „Es ist ja nichts daran,“
oder: „Die passen nicht mehr in
unsre neuen Straßen,“ so ruft man
wohl. Letzteres auch mit Recht, denn
leider stammen die Nachbargebäude
oft aus einer Zeit, auf deren Bau
tätigkeit wir mit Bedauern zurück
blicken müssen. Man sehe nur das
reizende, bürgerlich-behäbige Eck
haus der Post- und Calwerstraße an.
Wie verstand man es, gemütlich zu
bauen, und wie kalt schaut uns nun
das große „Wohnhaus“ daneben mit
seinem fremden Gesichtsausdruck an!
Erülieres Portal obigen Hauses