29. September 1906
BAUZEITUNG
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Mittel zur Beseitigung der außerordentlich ungünstigen
Verhältnisse, die infolge der Bauspekulation im deutschen
Baugewerbe eingetreten sind. Abgesehen von einzelnen
technischen Abänderungen, die er im Petitionswege Vor
bringen wird, erwartet der Verband von den gesetz
gebenden Körperschaften die baldige Erhebung des Ent
wurfs zum Gesetze.“
Maurermeister Heuer-Berlin spricht noch über die
Folgen des Gesetzentwurfes in Berliner Verhältnissen,
darauf folgt das Referat des Maurermeisters Müller-
Stettin über den Stand der Frage betr. „Führung des
Titels Baugewerkmeister“. Es ist von Gerichten
verschieden beurteilt, ob man sich ohne ein diesbezüg
liches Examen Baugewerkmeister nennen kann. Der
Titel „Baumeister“ ist bisher nicht geschützt. Hierzu
bemerkt Baurat Enke-Leipzig, daß in Sachsen der Titel
„Baumeister“ gesetzlich anerkannt ist im Gegensätze zum
Titel „Zimmer- und Maurermeister“, wie sich jeder Ge
selle, der von einer Handwerkskammer geprüft ist, nennen
kann. Redner schlägt vor, denjenigen, die eine höhere
Prüfung als die vor der Handwerkskammer abgelegt haben,
den Titel „Baumeister“ zu verleihen. Verschiedene andre
Redner gaben noch ihrer Meinung Ausdruck. Es genügt
nicht, daß nur der Titel „Baumeister“, sondern auch der
Titel „Baugewerkmeister“ geschützt wird, sonst setzt
man sich der Möglichkeit aus, daß sich Leute Baugewerk
meister nennen, die diesen Titel gar nicht verdienen.
Die Versammlung stimmte dem Kommissionsantrag zu,
der lautet:
„Der 21. Delegiertentag u. s. w. erkennt als eigentliche
Baugewerke nur das Maurer-, Zimmer- und Steinmetz
gewerbe an. Zwecks Schutzes des Titels Baumeister und
Baugewerkmeister werden die verbündeten Regierungen
ersucht, im Wege der Verordnung die Führung dieses
Titels von der Ablegung einer besonderen staatlichen
Prüfung in mindestens zwei der genannten Gewerbe ab
hängig zu machen und hierbei die Vorschriften der dies
bezüglichen Verordnung vom 12. Februar 1903 für das
Königreich Sachsen grundlegig zu machen. Die unbefugte
Führung des Titels Baumeister und Baugewerkmeister
ist unter Strafe zu stellen.“ (Schluß folgt)
Zur Abänderung’ des § 27 des Ortsbau-
rschiuß) Statuts Stuttgart
Zurückkommend auf die Vorschrift, daß das Haupt
gesims an der Rückseite nicht höher geführt werden darf
als an der Vorderseite, muß zugegeben werden, daß an
den Talseiten der Bergstraßen mit den für Stuttgart so
charakteristischen Aufbauten der Neben- und Rückseiten
wohl aufgeräumt werden darf, anderseits muß aber auch
angeführt werden, daß diese Bestimmung bei zusammen
gebauten Häusern ihren Wert vollständig verliert und
daß der vom juristischen Standpunkt aus sehr zu schätzende
§ 44 des Ortsbaustatuts in seiner Wirkung unberechtigt
beschränkt wird. Nach diesem § 44 richtet sich nämlich
die rückseitige Gebäudehöhe, nicht nach dem Haupt
gesims der Vorderseite, sondern nach dem dauernd un-
überbaut bleibenden rückseitigen Geländeeigentum, und
daß deshalb diese alte Bestimmung rechtlich mehr Sinn
und Konsequenz besitzt als die Neufassung, bedarf
wohl keiner Erläuterung, weshalb diese Bestimmung
sehr wohl auf ihre sonstigen Wirkungen zu untersuchen
sein wird und insbesondere zu bedenken ist, daß
jene gesuchten Dachwohnungen und Magdkammern
mit geraden Wänden und senkrechten Fenstern, die
sich bekanntlich billiger berechnen, in Wegfall kommen
würden.
Die Abs. 2 und 3 der Neufassung des § 27 bedingen die
Form des Gebäudes aufs engste und heben die allgemeinen
Rechtsgründen entsprechende Freiheit des Art. 23 auf.
Während bis jetzt sich die Baumöglichkeit nach der durch
den Besitzer zu bezahlenden Straßenfläche und nach
seinem unüberbauten rückseitigen Geländeeigentum rich
tete, wodurch sich ein exaktes Bauvolumen ergab, in
dessen Rahmen der Architekt willkürlich schalten konnte,
wird nunmehr schon durch das Gesetz dem Gebäude die
Form diktiert, und dem Architekten sind die künst
lerischen Leitlinien in bezug auf die gesamte Gruppie
rung des Hauses unbedingt vorgeschrieben. Beobachtet
man nun an der Hand der verschiedenen rektifizierten
Ortsbaustatuten Stuttgarts die baulichen Produkte unsrer
Schwabenresidenz der letzten zwanzig Jahre, so kann
man genau den Einfluß des Gesetzes auf die Architektur
des Gebäudes wahrnehmen. Es zeigt sich der berühmte
§ 68 der Ortsbaustatuten mit den Abschrägungen und
Walmdächern an den Eckhäusern, die Dachneigung von
60 °, der § 80 mit der konsequenten Flächenangabe des
Lichtzutritts und noch vieles andre. Wir lachen wohl
jetzt über das „Einst“, wir können uns aber kaum in
den Gedanken hineinfinden, daß Zeit, Anschauung und
Bedürfnis sich ändert und daß auch unsre jetzigen Be
griffe naturgemäß in Bälde überholt und zum „Einst“
gerechnet werden. Ob dann der Zeitgeist in zwanzig Jahren
unsern jetzigen Begriffen ein großes Lob spendet, das
vermag niemand zu sagen als die Erfahrung, jedenfalls
aber muß mit diesem Umstande gerechnet werden, da
selten die praktische und die künstlerische Bautätigkeit
in größere Widersprüche verwickelt war als in unsrer
Zeitepoche. Die Architektur ist ebenso wie alle Künste
der Mode und dem Zeitgeist unterworfen, und deshalb
muß es als unverantwortlich bezeichnet werden, wenn
plötzlich die Mode, die ein Weiter schreiten und Ver
vollkommnen beansprucht, durch Gesetz festgehalten
und die Phantasie des Künstlers auf immer in dieses
Gesetz hineingezwängt wird. Die Nachwelt wird dann
nimmer von Baustil, sondern von Baugesetz reden können,
und die Baugeschichte wird an der Hand von Gesetzes-
Paragraphen ihre Zeitabschnitte einteilen.
Neben diesen künstlerischen Bedenken warnt aber ein
schwerwiegendes wirtschaftliches Moment vor der Neu
fassung des § 27.
Weitaus die meisten Straßen in Stuttgart sind weniger
als 16 m breit. An allen diesen Straßen soll nun künftig
nur dreistöckig gebaut werden dürfen. Es ist eine be-