Full text: Bauzeitung für Württemberg, Baden, Hessen, Elsaß-Lothringen (1906)

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BAUZEITUNG 
NR. 4 
timere Kenntnis der alten Stile und der alten Denkmäler. 
Wir verfolgen die Stilentwicklungen bis in die feinen 
und feinsten Unterschiede und Abwandlungen in den ein 
zelnen Jahrzehnten, in den mannigfachen Schulen, in den 
verschiedenen Ländern, ja in den mancherlei Landschaften 
und Gauen. Die Möglichkeit, rasch und bequem die 
entferntesten Kunstwerke zu erreichen und zu unter 
suchen, die ungeahnte Entwicklung der Photographie hat 
unser Auge geschärft und uns die Mittel gegeben, die 
Stiltreue bis zum äußersten zu treiben. Manche sind 
Virtuosen der Stiltreue geworden. So ist es gekommen, 
daß wir, ohne uns dessen eigentlich klar bewußt zu sein, 
tatsächlich die Projekte oft weniger auf den ästhetischen 
oder Kunstwert als auf Stiltreue prüfen und verbescheiden. 
Eine Zeitlang freuten wir uns über diese Errungenschaft. 
Wir merkten gar nicht, daß die möglichst stilgetreue 
Imitation, dieses völlig stilgerechte Arbeiten vielleicht 
weniger künstlerische Selbständigkeit zuläßt als die Manier 
früherer Jahrzehnte, die nicht so stilgetreu war, dafür 
aber der künstlerischen Eigenart mehr Spielraum zur Ent 
faltung bot. Jetzt, da wir in den besten Leistungen den 
Gipfelpunkt der Stiltreue erreicht zu haben meinen, da 
wir oft das (wohl gar künstlich mit den Spuren des 
Alters versehene) Neue von dem Alten kaum mehr unter 
scheiden können und uns zum Kenntlichmachen der neuen 
Zutaten der Inschriften bedienen müssen, jetzt stellt sich 
nach einem immer wieder aufs neue sieb bestätigenden 
Entwicklungsgesetze der Kulturgeschichte der Rückschlag 
ein: wir empfinden das streng stilgerechte Schaffen in 
alten Formen bei Erweiterungen und bei Zutaten als 
Verzicht auf die künstlerische Individualität unsrer Zeit, 
wir schaudern gar oft vor dem künstlerischen oder viel 
mehr unkünstlerischen Ergebnis, das da mit ebensoviel 
Plakette im Neubau des Warenhauses Tietz in 
Stuttgart. Modelliert von G. A. Bredow-Stuttgart 
Scharfsinn wie Liebe, mit ebensoviel Wissen wie Können 
von den Künstlern und ihren Beratern zusammengetragen 
worden ist. Die wirklich guten, von vorzüglich nach- 
emplindenden und nachschaffenden Künstlern ausgeführten, 
mit Neuschöpfungen verbundenen Restaurationen sind so 
gering an Zahl, daß sie gegenüber der endlosen Masse 
der unbefriedigenden Arbeiten das allgemeine Empfinden 
des Unbehagens kaum zu ändern vermögen. 
Wir erkennen jetzt allmählich, daß das Geheimnis der 
Anpassung des Neuen an das Alte nicht in der Wahl der 
gleichen Stilformen, sondern lediglich in der künstlerischen 
Erfindung und Ausführung liegt. Und mit dieser Einsicht 
ist einer neuen Entwicklungspbase der Denkmalpflege die 
Bahn gebrochen. Wir begreifen; nicht um Stil, sondern 
um Kunst dreht sich die Frage. Deutlicher gesprochen: 
nicht die historischen Stilformen sind es, die die künst 
lerische Gesamtwirkung eines verschiedene Stile an und 
in sich vereinenden Baues begründen. Es ist vielmehr 
der Kunstwert der einzelnen Teile und das künstlerische 
Verhältnis dieser Teile zum Ganzen, was das einigende 
Band bildet, was das Geheimnis der Wirkung des Baues 
und seiner Einrichtung auf den Beschauer erklärt. Die 
künstlerische Einheit, nicht die Stileinheit und Stil 
gerechtigkeit bedingt schließlich den Eindruck des Werkes. 
Erlauben Sie mir, an einer kleinen Auswahl von Bei 
spielen zu zeigen, welchen Einfluß diese Erwägungen in 
der Praxis üben können. An den Beispielen werde ich 
zugleich Gelegenheit haben, die vorgetragene Anschauung 
einerseits zu begründen, anderseits klarer und deutlicher 
auszuführen. 
In einem ehrwürdigen romanischen Dom ist vor mehr 
als einem halben Jahrhundert die alte Einrichtung be 
seitigt worden, weil sie aus der Barock- und Rokoko 
periode stammte und zur Meinung der gebotenen Stil 
einheit nicht paßte. Was vor mehr als fünfzig Jahren 
an die Stelle gesetzt wurde, genügt wieder unsern jetzigen 
Anforderungen an Würde der Erscheinung nicht mehr. 
Und überdies entlockt uns das geringe Verständnis für 
romanische Stilformen an diesen Werken ein Lächeln der 
Ueberlegenheit. Schon steht der Architekt bereit, der 
verspricht, das alles im Sinne der romanischen Kunst 
viel besser, ja vielleicht mustergültig zu machen. Sollen 
wir nun versuchen, kraft unsrer ungleich größeren und 
vertiefteren Kenntnis der romanischen Stilformen die 
Altäre, die Kanzel u. s. w. in echterem romanischen Stil 
hinzustellen? Ich würde einen solchen Versuch vom 
Standpunkt unsrer jetzigen Erfahrung aus lebhaft be 
dauern. Wir mögen uns noch so sehr einbilden, etwas 
Stilgerechtes oder doch dem Romanischen außerordentlich 
Nahekommendes zu schaffen; über kurz oder lang naht 
die Zeit, da auch diese Werke als nicht stilgerecht emp 
funden werden. Und dann, welche Geschmacklosigkeit 
ist es in den Augen des feiner Empfindenden, wenn der 
moderne Künstler mit dem Werke der alten Meister, 
das in dem Baue uns vor Augen steht, einen Stilwett 
kampf eingehen will! Was andres wird da erreicht, als 
daß das Alte in seiner Originalität und Wirkung durch 
die archaisierenden, ihm in den Einzelformen anempfun 
denen Zutaten beeinträchtigt, ja totgeschlagen wird? So 
entsteht wohl gar aus gutgemeinter, aber falsch verstan 
dener Pietät vor dem Alten ein Ausbund von Pietät 
losigkeit. Eher könnte ich es mit meinem künstlerischen 
Gefühl vereinbaren, wenn man bei der neuen Einrichtung 
der als Beispiel angezogenen romanischen Kirche spätere 
Stilperioden, z. B. die Gotik oder auch die Renaissance, 
als Fundgrube benutzen würde. Denn dann wäre we 
nigstens die Gefahr beseitigt, daß die alten romanischen 
Formen von den Rivalen in ihrer Wirkung beeinträchtigt 
werden. Weitaus vorziehen aber würde ich es, wenn 
die Einrichtung ganz unabhängig von einem bestimmten 
alten Stile entworfen würde, lediglich in der Absicht, 
Kunstwerke zu schaffen, die in Silhouette und Farbe sich
	        

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