Volltext: Bauzeitung für Württemberg, Baden, Hessen, Elsaß-Lothringen (1906)

27. JANUAR 1906 
BAUZEITUNG 
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dem gegebenen Raume einfügen. Und glaubt man, von 
der alten Formensprache sich doch nicht loslösen zu 
können, so verwende man sie wenigstens in völlig freier 
Weise, in individuell durchgehildet künstlerischer Eigen 
art, die uns selbst und späteren Geschlechtern keinen 
Zweifel über die Bntstehungszeit läßt. Nicht möglichste 
Stiltreue, sondern Befreiung von der Stiltreue, möglichst 
frei und individuell durchgeführte, künstlerische Verwertung, 
Umbildung, Anpassung und Fortentwicklung der alten 
Einzelformen sei dann die Losung! Auf jeden Fall aber 
soll der leitende Gedanke sein, die neuen Einrichtungs 
gegenstände in künstlerischer, eigenartiger Weise auszu 
führen und so Kunst neben Kunst zu stellen. Nur so 
ivird sich das Neue vom Alten klar und deutlich als Kind 
einer andern Zeit abheben und doch wieder eine künst 
lerische Verbindung mit ihm eingehen. 
Ein weiteres Beispiel! Bleiben wir hei einem mittel 
alterlichen Dom! An diesem Dom findet sich ein roma 
nisches Prachtportal mit Säulen, figürlichen Skulpturen, 
kurz mit reicher Ornamentik. Das große Dekorations 
stück ist jetzt der Witterung ausgesetzt; einst aber war 
es durch eine Vorhalle oder durch einen Kreuzgang Jahr 
hunderte hindurch geschützt. Die schützende Halle ist 
seit langem abgebrochen. Man erkennt, daß wieder ein 
tiefer Vorbau hergestellt werden muß, wenn der Verfall 
aufgehalten werden soll. Es werden natürlich Projekte 
in formalem Anschluß an den romanischen Charakter des 
Portals entworfen. Da tritt ein künstlerisch fein emp 
findender Mann auf, setzt auseinander, wie die romanischen 
Stilformen des Neubaues die Wirkung des alten roma 
nischen Originals schädigen würden, und verlangt, daß 
der Anbau in ganz freien Formen entworfen werde, in 
Formen, die ihn sofort als eine Jahrhunderte spätere 
Zutat, als eine Schöpfung unsrer ihrer eignen Kraft 
wieder bewußt gewordenen Zeit erkennen lassen; er stellt 
nur die eine Forderung, daß der Architekt des Anbaues 
im Umriß, in der Silhouette seines Werkes den Einklang 
mit dem vorhandenen Baue suche. Wer wollte diesem 
Gedankengang Berechtigung absprechen? 
Blicken wir auf eine andre Gruppe von Denkmälern! 
Auf einem Bergrücken liegt eine altertümliche Stadt 
mit malerischen Mauern und Toren. Die Straße zum 
Berg hinauf führt oben durch einen gotischen Torturm 
mit beiderseits anschließender Stadtmauer. Vor kurzem 
hat man seitlich vom Tore am Rande des Bergrückens 
einen großen Neubau aufgeführt; dabei fiel die Mauer 
mitsamt ihrer Ueberbauung zwischen Torturm und Neubau 
zum Opfer; es klafft jetzt eine große Lücke. Daß die 
alte Tordurchfahrt zu eng und der neue Durchbruch als 
zweite Verkehrsader zu benutzen sei, war allen klar. 
Aber über die Art der Ausführung waren die Meinungen 
geteilt. Die einen wollten die Lücke einfach als Weg 
offen lassen; die andern wollten sie durch einen über 
bauten Torbogen wieder schließen. Die Vertreter der 
ersteren Partei machten geltend, daß durch die Zutat 
eines zweiten Torbogens, bei dessen Ausführung man 
jedenfalls den Stilformen des Turmes folge, der Charakter 
der alten Befestigung völlig verändert werde; es werde 
ein Bild vorgetäuscht, wie es früher nie bestanden haben 
könne. Und die andre Partei erklärte, die klaffende 
Lücke müsse aus künstlerischen Gründen wieder ge 
schlossen werden, die Rücksicht auf das Straßen- und 
Städtebild verlange einen architektonischen Abschluß. 
Nach mancherlei Verhandlungen wurde ein Vorschlag 
angenommen, der beiden Anschauungen Rechnung trug; 
es soll eine zweite überbaute Durchfahrt neben dem alten 
Torturm hergestellt werden, in den Umrissen der Sil 
houette des Turmes und der Umgebung angepaßt, in den 
Einzelformen aber unabhängig von dem historischen Stile 
des Turmes; der Anbau soll, auch abgesehen von dem 
Baumaterial, sofort als modern zu erkennen sein, sich 
aber mit dem Alten zu einer jener Bildwirkungen ver 
einen, die uns an den Werken der vergangenen Jahr 
hunderte so anheimelnd berühren. 
Wir sehen: gerade durch das Vermeiden des strengen An 
schlusses an die Einzelformen historischer Stile können wir 
bei neuen Zutaten an alten Bauten das historisch und 
künstlerisch Wertvolle der früheren Schöpfungen möglichst 
rein und scharf abgegrenzt erhalten. 
Setzen wir einen andern Fall! Eine kleine Rokokodorf 
kirche mit reizvollen Stukkaturen und Deckengemälden 
muß erweitert werden. Es wird gegen Westen ein großer 
Anbau als Schiff hinzugefügt, so daß die alte Kirche im 
Osten nun als Chor wirkt. Grundriß und Aufbau wird 
in einfacher Weise durchgeführt, darüber erheben sich 
nicht viele Zweifel. Aber die Innendekoration des An 
baues? Sollen wir uns da unbesehen dem alten Vorbild 
anschließen? Oft genug geschieht das. Da setzt man 
dann den Ehrgeiz darein, die neuen Stukkaturen möglichst 
täuschend den alten nachzuempfinden. Bei der außer 
ordentlich hohen Entwicklung der wieder aufgelebten 
Stucktechnik macht das keine Schwierigkeit. Und reichen 
die vorhandenen Stukkaturen in der alten Kirche nicht 
aus, um als Vorbild für die Komposition der Dekoration 
des Neubaues zu dienen, so hat man ja genug andre Vor 
bilder, man hat eine Sammlung von Photographien, die 
zieht man zu Rate, aus ihr weist man dem projektierenden 
Künstler Motive nach. Schwieriger ist schon die Her 
stellung altertümelnder Deckenbilder. Denn es gibt nur 
einige wenige Maler, die ganz im Anschluß an die alte 
Rokokoart in Komposition, Zeichnung und Farbe zu 
arbeiten verstehen. Aber auch diese Klippe wird über 
wunden. Wozu hätten wir denn die alten Kupferstiche 
und Bilder des 18. Jahrhunderts, wenn wir es nicht ver 
stünden, aus ihnen die Motive zu neuen Kompositionen 
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Plakette im Neubau des Warenhauses Tietz in 
Stuttgart. Modelliert von G. A. Bredow-Stuttgart
	        

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