BAUZEITUN
FÜR WÜRTTEMBERG'
BADEN HESSEN EL
SAS S - LOTHRINGEN
STUTTGART, I. DEZEMBER 1906
Inhalt: Die Erziehung zur Architektur. — Abbildungen aus dem Werk „Das deutsche Kunstgewerbe 1906“,
Verlag P. Bruckmann A.-G., München. — Bund deutscher Architekten. — Wettbewerb Deutsches Museum
München. — Vereiusmitteilungen. — Wettbewerbe. — Kleine Mitteilungen. — Personalien. — Bücher.
-KAusriüiN- — -
Alle Rechte Vorbehalten
Die Erziehung zur Architektur
Von Hermann Muthesius 1 )
Es steht fest, daß die Architektur die unpopulärste
unter den Künsten ist. Das tritt besonders dann her
vor, wenn man sich das ungeheure Interesse vergegen
wärtigt, das das Publikum den Werken der Malerei ent
gegenbringt.
Es ist jedoch zweifelhaft, ob eine bloße sogenannte
Erziehung des Publikums zur Architektur, wie sie heute
im allgemeinen gehandhabt wird, Abhilfe schaffen wird.
Vielmehr ist der Tiefstand des Verständnisses für Archi
tektur als ein Symptom dafür aufzufassen, daß die
heutige Architektur selbst an öffentlicher Bedeutung
zurückgetreten ist.
Das wird augenscheinlich, wenn man die großen Glanz
zeiten der Architektur, die griechische, römische, gotische,
zum Vergleich heranzieht, in welchen die Architektur un
zweifelhaft an der Spitze der Künste marschierte. Sie
tat dies, weil sie die Universalgestalterin der baulichen
und bildnerischen Ideen der Zeit war.
In der heutigen Welt spielen die Probleme des In
genieurs, der Ausbau der Verkehrsmittel, die Ausbildung
der Maschinen und arbeitersparenden Werkzeuge eine
größere Rolle als die eigentlichen Werke des Architekten,
von denen nur der Städtebau in die großen Probleme
unsrer Zeit hereinragt.
Von dem Wirken des Ingenieurs, der frei, vorwärts
blickend und von Nebenrücksichten unbeeinflußt die Auf
gaben der Zeit zu lösen sucht, unterscheidet sich das
Wirken des Architekten unvorteilhaft dadurch, daß er
rückwärts blickt und seine Werke mit Vorliebe in die
Aeußerungsformen vergangener Zeiten kleidet, wodurch
sie von selbst etwas Gegenwartfeindliches annehmen.
Die Geschichte der Architektur des 19. Jahrhunderts
zeigt, wie die Architektur von einer archäologischen
Richtung in die andre geworfen wurde und dadurch fast
den Charakter einer oberflächlichen Verkleidungskunst
annahm. _
Auch die heutige Architekturausübung ist zum Teil
noch in archäologischen Tendenzen befangen. Beweis:
a) die Bedeutung, die dem sogenannten Stil noch bei
gemessen wird (man baut noch heute „romanische“ Aus
i) Mit Erlaubnis des Verfassers und des „KunstwarU-Verlags ver
öffentlichen wir vorstehenden Aufsatz, der die Leitsätze aus einem
Vortrag auf dem 7. internationalen Arohitektenkongreß in London
1906 darstellt.
stellungshallen, „Renaissance“-Bahnhöfe u. s. w.), b) die
Stellung, die der Hauptteil der Architekten noch zu den
Denkmälern einnimmt, die noch immer im sogenannten
Geiste einer früheren Zeit wiederhergestellt werden, c) das
häufig angetroffene Bestreben, alte Städtebilder dadurch
zu erhalten, daß moderne äußerliche Nachahmungen neben
die alten Originalhäuser gesetzt werden.
Die archäologische Befangenheit der heutigen Archi
tekturausübung ist in neuerer Zeit vielen Gebildeten klar
geworden und hat sie zu einer direkten Gegensatzstellung
veranlaßt. Erinnert sei an die Stellungnahme gegen die
Wiederhersteller alter Bauten.
Auf der andern Seite läßt sich erfreulicherweise be
obachten, daß wirklich selbständig schaffende Architekten,
die nicht archäologisch, sondern modern denken, Anklang
auch im größeren gebildeten Publikum finden. Es sei
unter vielen Beispielen, die sich in allen Ländern finden,
nur an den Bau Wertheim von Messel in Berlin er
innert.
Diese Anerkennung entspringt derselben Quelle, wie
die große Anerkennung, die in den letzten Jahren die
moderne Bewegung im Kunstgewerhe gefunden hat. Beide
haben als Ursache die Erkenntnis, daß hier wieder der
Boden der Gegenwart gewonnen und die Archäologie ver
lassen worden' sei.
Die Verquickung der Archäologie mit der schaffenden
Kunst war der große Irrtum, der im letzten Jahrhundert
das Sinken des architektonischen Lebens veranlaßt hat.
Beide haben nichts miteinander zu tun und müssen sorg
fältig auseinander gehalten werden.
Auf der Basis dieses Irrtums ist das Publikum syste
matisch verzogen worden, und es ist jenes falsche In
teresse an den „Stilen“ erweckt, das jetzt einem leben
digen Erkennen der wirklichen Werte in der Architektur
im AVege steht. Die Architekten, die sich heute noch
befleißigen, in „Stilen“ zu hauen, befördern künstlich
dieses falsche Interesse und verschlimmern so die Situation
noch wesentlich.
Eine Erziehung des Publikums, die von wirklichem
AVert für die Architektur sein soll, kann sich nur an
die wirklich guten, modern empfundenen AVerke der
heutigen Baukunst heften, die allerdings noch dünn ge
sät sind.
Das beste Erziehungsmittel zur Architektur ist, Archi
tekturwerke von wirklichem modernen Werte zu schaffen,