12. Januar 1907
BAUZBITUNö
11
Spannung auf die Lösung einer Frage, die wohl nicht
minder wichtig ist als jene vor nun etwa 60 Jahren,
als ein großer Hamburger Meister seiner Vaterstadt zu
rief, sie solle im Geiste der eignen Zeit schaffen und im
Geist der zeitgemäßen Auffassung vom Wesen des Gottes
dienstes. Damals sagte Gottfried Semper — leider ver
geblich — ein großes Wort: „Unsre Kirchen sollen
Kirchen unsrer Zeit sein. Man soll sie in Zukunft nicht
für Werke einer andern Zeit halten müssen. Man begeht
sonst ein Plagiat an der Vergangenheit und belügt die
mir in wenigen Worten meine Ansicht betreffs der Säulen
des Tempels der Hera in Olympia zum Ausdruck zu
bringen.
Die Ansicht, daß der Tempel ursprünglich lauter
Holzsäulen gehabt habe, welche im Laufe der Zeit je
nach Bedürfnis durch steinerne Säulen ersetzt wurden,
wodurch die Abweichungen in der Ausgestaltung der
einzelnen Säulen entstanden sein sollen, ist ganz un
glaublich. Im griechischen Tempel sind sicher selbst in
den ältesten Zeiten keine Holzsäulen verwendet worden,
Kirche in Groß-Eislingen
Zukunft. Am schmählichsten aber behandelt man die
Eigenart, denn man spricht ihr die Existenz ab und be
raubt sie der monumentalen Urkunden!“
Ganz Deutschland würde es beklagen, wollte Hamburg
zum zweitenmal auf die Worte eines seiner größten Söhne
nicht hören!
Das Heraion in Olympia
Zu der Streitfrage, ob der alte Heratempel in Olympia
ursprünglich aus Holz gewesen, sind uns aus Architekten
kreisen wie seitens genauer Kenner der altgriechischen
Kultur Zuschriften zugegangen, die sich mit der Bohn-
sackschen Anschauung (siehe Nr. 45 des Jahrg. III) decken.
Wir geben heute einer Zuschrift Raum, die Oberbaurat
Prof. v. Reinhardt auf unsre Bitte, sich zu der interessanten
Frage zu äußern, an uns gerichtet. Das Schreiben lautet:
„Ihrer Aufforderung gerne entsprechend, erlaube ich
Architekten Prof. Böklen und Feil, Stuttgart
es schließt die sonstige monumentale Bauweise dieses
Heiligtums einen solchen Vorgang ganz aus.
Die Verschiedenheit der an diesem Bau Vorgefundenen
Ueberreste der Steinsäulen der peripteralen Halle dürfte
in ganz einfacher Weise damit zu erklären sein/ daß bei
diesem ältesten Tempel Olympias, dem Mekka der Griechen,
die Säulen zum Bau von den verschiedenen Stadtgemein
den Griechenlands oder von einzelnen Privatpersonen ge
stiftet und nach dorten verschickt worden sind, also
nicht an Ort und Stelle einheitlich ausgearbeitet wurden,
ein Vorgang, der im Altertum nicht vereinzelt dasteht.
Stuttgart. Hochachtungsvoll
Prof. Reinhardt.“
Sehr eingehend über das Heraion hat sich Geheim
rat Dr. v. Durm-Karlsruhe geäußert. Seine Darlegung,
die durch mehrere Zeichnungen veranschaulicht ist, werden
wir in einer der nächsten Nummern der „Bauzeitung“
veröffentlichen.