BAUZBnnUN
FÜR WÜRTTEMBERG
BADEN HESSEN EL
SAS S-LOTHRINGEN
Stuttgart, 2. Februar 1907
Inhalt: Zweokform oder Kunstform? — Wettbewerb Realschule Tübingen. — Zur Revision der Wegord
nung in Württemberg. — Vereinsmitteilungen. — Wettbewerbe. — Abbildungen aus Heilbronu. — Kleine
Mitteilungen. — Beleuchtungskörper, ausgeführt von P. Stotz, kunstgewerbl. Werkstätte, Stuttgart. — Bücher.
Alle Rechte Vorbehalten
Zweckform oder Kunstform?
Wenn das letzte Jahrzehnt des verflossenen Jahr
hunderts begonnen hat, den Wölbhrückenbau in seine alte
Ehrenstellung wieder einzusetzen, so will die Gegenwart
dabei nicht stehen bleiben. Sie bemüht sich, den un
schuldig Zurückgesetzten einer neuen Glanzzeit entgegen
zuführen. Mit der Anwendung regelrechter Gelenke bei
den Massivbrücken hat diese vielversprechende Weiter
entwicklung eingesetzt. Merkwürdigerweise blieb dieser
Fortschritt, der Berechnung und Gestaltung der Wölb
brücken auf eine neue Grundlage stellte, auf das Aeußere
solcher Gelenkbrücken vielfach ohne Einfluß. Wenn auch
die eigenartige Form des Gelenkbogens allmählich zu
Ehren kam, so wußten selbst hervorragende Architekten
als künstlerische Gestalter dieser Brücken mit den Ge
lenken, insbesondere sobald es sich um Stahlgelenke
handelte, nichts anzufangen: sie wurden kurzerhand tot
geschwiegen. Es soll deshalb diesen Künstlern kein Vor
wurf gemacht sein, hatten doch die Ingenieure, die die
selben Gelenke zugossen und so für die Dauer unwirksam
machten, sich selbst eines wichtigen Vorteils entäußert.
Gegen eine solche Vernachlässigung grundlegender Bau
glieder mußte sich mit der Zeit natürlich Widerspruch
erheben. In die Tat umgeselzt findet dieser Widerspruch
seinen vollkommensten Ausdruck in den Gelenkbrückeu,
die die rein theoretisch gefundene Zweckform mit sicht
baren Gelenken zeigen.
Einer unsrer bekanntesten Vorkämpfer für den Massiv
brückenbau, Landesbaurat Leibbrand, hat in seinem um
fassenden Vortrag über die Fortschritte im Bau massiver
Brücken auf der diesjährigen Tagung des Verbandes
deutscher Architekten- und Ingenieur-Vereine ebenfalls
diesen Punkt berührt. Der verdiente Redner führte u. a.
folgendes aus: „Man hat den Gelenkbrücken zumeist auch
die Form von gelenklosen Brücken gegeben in der Meinung,
daß die Verdickung des Gewölbes in der Bruchfuge un
schön wirke. Letzteres wird zuzugeben sein, wenn die
Gewölbe verdeckt sind, da dann eine solche Verdickung
unverständlich bleibt. Ich habe bei den von mir aus
geführten Gelenkbrücken die Gelenke offen gelassen und
den Gewölben die rechnungsmäßig ermittelte Form ge
geben. Ich glaube behaupten zu dürfen, daß diese Form
gebung, weit entfernt, unschön zu wirken, nicht ohne
besonderen Reiz ist und rasch den Beifall gewonnen hat.“
Diese Bemerkungen des erfahrenen Meisters auf dem
Architekt Oswald, Stuttgart
Realschule Tübingen, ein III. Preis