Full text: Bauzeitung für Württemberg, Baden, Hessen, Elsaß-Lothringen (1907)

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BAUZEITUNG 
Nr. 11 
Kritik des Stuttgarter Baupolizeiwesens 
•—x M. Landauf, landab hört man Klagen, daß dem 
Bau menschlicher Wohn- und Arbeitsstätten u. dergl. durch 
das Genehmigungswesen so viele Hindernisse und Aufent 
halte in den Weg gelegt werden, trotzdem die Wohnungs 
frage einem ganz elementaren Bedürfnis Genüge leistet 
und wie Essen und Trinken zu jenen Urelementen ge 
rechnet werden kann, die den Selbsterhaltungstrieb im 
modernen Sinne bedeuten. Es ist nun darüber kein 
Zweifel, daß über die Art und Ausdehnung des Bauens 
Vorschriften nötig sind, aber über die Handhabung dieser 
Vorschriften, darüber bestehen Zweifel. Man kann die 
selben von einem ausgesprochen theoretisch - bureaukra- 
tischen Standpunkt aus auffassen oder aber man kann 
die Handhabung von einem technischen Wissen, einem 
künstlerischen Empfinden, kurzum, von in der Praxis 
erprobten Erfahrungsgrundsätzen abhängig machen. 
Beide Auffassungen sind im Bahmen der Bauordnung 
möglich, und es entspricht die letztere zweifelsohne dem 
Geist, der die Bauordnung vom Jahre 1872 geschaffen 
hat. Hier spricht keine Buchstaben-, sondern eine tat 
sächliche Gerechtigkeit, hier ist das Allgemeinwohl das 
maßgebende Moment. Es ist sehr wohl der große Unter 
schied zu berücksichtigen, der zwischen den moralischen 
Gesetzen und einem Gesetz besteht, das die Materie 
beherrscht. Dort bestehen die Grundprinzipien seit Jahr 
tausenden, hier handelt es sich darum, Wege zu zeigen, 
wie der rohe Naturstolf am besten der Kultur Dienste 
leisten kann. Die Kultur aber kennt keinen Stillstand, 
die Technik schreitet unaufhaltsam weiter, die Kunst ist 
Mode und wechselt, und unter diesen Umständen muß 
eine Bauordnung wohltätig wirken. Es ist dabei klar, 
daß die Aufgabe derselben keine kleinliche Nergelei sein 
darf, sondern daß hier ein großzügiger, objektiver Stand 
punkt unbedingt notwendig ist, um solch einem Gesetz 
den Stempel der Wohltat und nicht den der Plage auf 
zuprägen. 
Für heute soll weniger die Auffassung der Bauord 
nung besprochen werden als der Gang, den ein Baugesuch 
in der Haupt- und Besidenzstadt Stuttgart zu durchlaufen 
hat, und dabei soll insbesondere auf eine Klippe hin 
gewiesen werden, an der fast jedes Gesuch einen Bruch 
leidet und die immer größer und mächtiger zu werden 
droht und hauptsächlich gegen die oben günstig beurteilte 
Auffassung gerichtet ist, nämlich gegen die praktische 
Erfahrung auf dem Gebiete des Baupolizeiwesens. 
Gemäß § 66 der Vollzugsverfügung ist ein Baugesuch 
bei einem vom Ortsvorsteher zu bezeichnenden Gemeinde 
heamten schriftlich einzureichen oder mündlich zu Protokoll 
zu geben. Wenn hierbei Bauzeichnungen oder Situations 
pläne in mangelhafter Ausfertigung (vergl.§67) eingereicht 
werden, so sind dieselben sofort zur Ergänzung zurück 
zugeben. Diese Empfangstation bildet in Stuttgart die 
Batschreiberei für Baupolizeisachen. Die Aufgaben, die 
ihr gemäß §§ 66 und 67 zufallen, sind lediglich formeller 
Art: Kontrolle über Format, Papiercjualität, Maßstab, 
Darstellung bezüglich der Farben und des Maßbeschriebs 
und das Unterzeichnen der Pläne etc. 
In der Tat aber besorgt diese Batschreiberei eine weit 
umfangreichere Tätigkeit, und daher kommen in der 
Hauptsache die unliebsamen Verzögerungen. Sie be 
anstandet baugesetzliche Mängel, fordert weitere Zeich 
nungen u. s. w., konstatiert die Notwendigkeit von Dis 
pensationsgesuchen, beurteilt darüber, inwieweit Behörden 
und Nachbarn in Betracht kommen, verlangt Lagepläne 
an „Bogenstraßen“ 1:20, Grundrisse 1:20; sie will 
wegen Ueberschreitung der Baulinie an „Bogenstraßen“ 
mit Architekturteilen mit wenigen Quadratzentimeter 
Grundfläche Meßurkunden, verlangt den Erwerb dieser 
der Stadt gehörenden Straßenfläche, ein Betrag von 
ca. 50 Pf.! Die Batschreiberei stellt Bauarbeiten ein, 
vielfach an einer Stelle eines Bauwesens nur u. s. f., 
kurz, sie erscheint dem Publikum gegenüber als maß 
gebende Instanz, weit mehr als das Kgl. Ministerium 
selbst, denn wenn ein Baugesuch längst vom Gemeinde 
rat empfohlen wurde und das Ministerium nur noch neben 
sächliche, formelle Ergänzungen verlangt und die Ge 
nehmigung dabei in sichere Aussicht stellt, dann weiß 
die Batschreiberei für Baupolizeisachen oft nochmals 
Ausstellungen zu machen, die der Anschauung des Mini 
steriums entgegentreten. 
Solch ein Herrschaftsgebiet nimmt in Stuttgart eine 
Batschreiberei für Baupolizeisachen ein, und erklärt sich 
daraus, wenn das in § 66 der Vollzugsverfügung aus 
gedrückte und im Baugesetz oft wiederholte „Sofort“ 
nicht aufrechterhalten wird. 
Bis dann erst die tatsächlich maßgebenden städtischen 
Instanzen u. s. w. und endlich das Ministerium ein Bau 
gesuch zur Behandlung bekommen, welches alles durch 
die Batschreiberei für Baupolizeisachen geschieht, dann 
begreift man, warum ein Baugesuch Monate, ja sogar 
Jahre braucht, bis es Genehmigung erringt. 
Es ist nun allgemein bekannt, daß das verunstaltete 
Städtebild unsrer schönen Schwabenresidenz hauptsächlich 
von den Stadtbauplänen früherer Zeiten und von unserm 
Ortshaustatut herrührt. Statt daß nun die Stadt im All 
gemeininteresse ihre vornehmste Aufgabe darin erblicken 
sollte, diese Sünden nach unsern heutigen Anschauungen 
wieder gutzumachen, arbeitet sie mit einem nervenerregen 
den Bureaukratismus dagegen. Ein Glück ist es zu nennen, 
daß die Techniker der Stadt Stuttgart und das Kgl. Mini 
sterium noch ein wenig dreinzusprechen haben, sonst 
hätten wir am Ende heute noch Normaleckhäuser nach 
§ 68 des Ortsbaustatuts. Und das alles in einer Stadt, 
deren Verwaltung auf einer durchweg demokratischen 
Grundlage steht und die vor nicht allzulanger Zeit den 
heiligen Bureaukratius öffentlich ans Kreuz nagelte. 
Nun hilf dir selbst!
	        

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