Full text: Bauzeitung für Württemberg, Baden, Hessen, Elsaß-Lothringen (1909)

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BAUZEITUNG 
Nr. 38 
Rathaus 
Marktplatz Gönningen Bisheriger Zustand 
geläufigen Formenwelt an, auch wenn sich die Bedingungen 
grundsätzlich verändert haben. So waren die ersten 
Eisenbahnwagen auf Schienen gestellte Postkutschen, die 
ersten Grasbeleuchtungskörper imitierte Kerzen, die ersten 
Automobile deichsellose Droschken. Solche Uebergangs- 
stufen, gewissermaßen eine Metamorphose der Form 
darstellend, sind auch in der Ausbildung der Ingenieur 
bauten zu beobachten, die im 19. Jahrhundert als ganz 
neue bauliche Aufgaben auftraten. Auch auf diese wurden 
zunächst die altgewohnten Formen (antike Säulen, go 
tisches Maßwerk, Renaissanceschnörkel, ganze Archi 
tekturfassaden u. s. w.) übertragen. Die Entwicklung hat 
jedoch dahin geführt, diese dem Wesen der Ingenieur 
bauten nicht entsprechenden Formen mehr und mehr 
abzustoßen. Dies ist bereits völlig geschehen im Ma 
schinenbau, wo sich eine neue Formenwelt entwickelt 
hat, die dem Zweck entspricht, ohne auf Schönheit zu 
verzichten. Es ist noch nicht völlig geschehen bei Brücken 
bauten, Hallenkonstruktionen u. s. w., bei denen noch 
heute vielfach versucht wird, bei der alten, auf andern 
Voraussetzungen begründeten Architektur Anleihen zur 
angeblichen Verschönerung der Bauten zu machen. So 
ist es noch allgemein üblich, mit architektonischem Zie 
rat überdeckte Steinmasken vor leichte Eisenkonstruktionen 
zu setzen, wodurch der Versuch unternommen wix-d, 
heterogene Bauteile miteinander zu verbinden, die nie 
eine Einheit bilden können. Wie das Bestreben, die 
Ingenieurbauten in den Bereich künstlerischer Ausbildung 
zu ziehen, das ganze 19. Jahrhundert erfüllt hat, so ist 
neben den Versuchen ausübender Künstler, die sich 
aber meistens in der genannten Richtung abspielten, 
auch in der Literatur das Problem fleißig erörtert worden. 
Gottfried Semper hat schon in den fünfziger Jahren die 
Frage von der ästhetischen Seite untersucht und den 
seitdem sehr häufig zitierten Satz aufgestellt, daß von 
einem monumentalen Stil der Eisenkonstruktion nicht 
die Rede sein könne, daß das Eisen vielmehr nur die 
Konstruktion beeinflussen könne, solange es unsichtbar 
in einem kompakten Material aufgehe. Die meisten Theo 
retiker haben sich diesem Standpunkt angeschlossen, in 
dem sie gegen die selbständige Formentwicklung der 
Eisenbauten hauptsächlich anführten, daß das Eisen zu 
dünn sei, um einen räumlichen Eindruck zu schaffen, und 
daß die Formeisen plastisch unbildbar seien und daher 
nicht die versinnbildlichende Funktion ansdrücken könnten. 
Man mag diese Einwürfe werten wie man will, die Ent 
wicklung, welche die Eisenbauten bisher genommen 
haben, hat den Theoretikern insofern Unrecht gegeben, 
als sich mit Macht eine dem Eisen eigentümliche Ge 
staltungswelt in den Bauten des Ingenieurs zeigt, die 
heute nicht nur als deutlich erkennbarer Typus vor aller 
Augen steht, sondern sogar dem Schönheitsempfinden 
der Menschen mehr und mehr zu entsprechen beginnt. 
Schon heute ist unser Unterscheidungsvermögen auch für 
Ingenieurbauten so weit entwickelt, daß wir gut wirkende 
von häßlich wirkenden Werken zu unterscheiden ver 
mögen, so daß eine ästhetische Wertung der Ingenieur 
bauten bereits eingetreten ist. Es hat sich indessen ge 
zeigt, daß die ästhetische Ausbildung der Ingenieurbauten 
aus dem inneren Wesen heraus und nicht durch Zu 
tragen äußerlicher Verzierungsteile geschehen muß. Die 
wesentlichen Bildungsgesetze der Architektur, welche in 
Symmetrie, Rhythmus, Proportion und sinnfälligem Aus 
druck der Funktion bestehen, können alle auch bei den 
Bauten des Ingenieurs in ihrem ursprünglichen Sinn an- 
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Preisgekrönter Entwurf 1 
Architekten Klatte & Weigle-Stuttgart 
Zur Ausführung bestimmt
	        
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