14. August 1909
BAUZBITUNG
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Marktplatz und Rathaus Gönningen nach der Ausführung
gewendet werden. Unbedingt notwendig ist jedoch, daß
derjenige, der sie verwendet, auf der Basis mathema
tischen Yorstellungsmaterials steht, von der aus allein
der Triumph der Technik sich entwickelt hat. Denn es
wäre ein nicht zu verstehender Rückschritt, die mathe
matische Denkungsweise zugunsten einer sog. ästhetischen
Ausbildung der Ingenieurbauten wieder aufzugeben oder
auch nur zu verdunkeln. Deshalb kann auch ein höherer
Schönheitswert der Ingenieurbauten nur von demjenigen
erzielt werden, der den Bau von Anfang an konzipiert
hat. Nur wer das mathematische Rüstzeug bis zur Voll
endung beherrscht, ist in der Lage, Gestaltungen zu
schaffen, die von der Sache nicht abirren. An den In
genieur muß aber anderseits die Forderung gestellt
werden, daß er, weil er allein die Möglichkeiten des
sachgemäßen Bildens in der Hand hat, auch den Rück
sichten der gefälligen Erscheinung gehörig Rechnung
trägt. Diese Rücksichten der gefälligen Erscheinung müssen
daher in der Erziehung des Ingenieurs betont werden,
jedoch stets auf der Grundlage der heute im Ingenieur
bau selbst schon vorliegenden Resultate. Eine Zusammen
stellung der künstlerisch maßgebenden Ingenieurbauten
dieser Art wäre erwünscht. Da das Schönheitsempfinden
dem menschlichen Geist ursprünglich und als nicht aus
zuschaltender Teil seiner geistigen Funktionen beigegeben
ist, so muß auch jede menschliche Tätigkeit den Stempel
der Schönheit tragen. Die Schönheit wird sich auch bei
den Ingenieurbauten als natürlicher Teil ihres Wesens
einstellen, wenn sie sich aus der heute noch nicht ganz
überwundenen Uebergangsstufe zur vollen Selbständigkeit
entwickelt haben werden.
Als zweiter Redner äußerte sich zu dem Thema ein
Ingenieur, der Eisenbauinspektor Dr.-Ing. Jordan-
Straßburg, der sich im einzelnen über Brücken und Eisen
hallen verbreitete.
Nach einem üeberblick über die geschichtliche Ent
wicklung der Balken- und Bogenbrücken wurden die
jenigen Konstruktionsarten eiserner Brücken einander
gegenübergestellt, die in den letzten Jahren am häufig
sten in Wettbewerb getreten sind, der sog. Zweigelenk
bogen mit Zugband einerseits und der Auslegerträger
bzw. der durchgehende Träger anderseits. Der Redner
äußerte den Wunsch, es möchten diese zuletzt genannten
Trägerarten mehr als bisher in den Vordergrund treten,
und machte an der Hand von Skizzen Vorschläge für
die weitere Entwicklung der Formen dieser Träger in
ästhetischer Beziehung. Im weiteren wurden die Hänge
brücken, die steinernen Brücken einschließlich der Eisen
betonbauten sowie die eisernen Bahnhofshallen in ihren
wichtigsten Konstruktionstypen hinsichtlich der Gesamt
wirkung an der Hand von Skizzen besprochen. Das Er
gebnis der Betrachtungen wurde in folgende Sätze zu
sammengefaßt: 1. Bei der ästhetischen Ausbildung von
Ingenieurbauwerken ist die allgemeine Anordnung der
Massen sowie die Führung der Umrißlinien und die Wahl
der Verhältnisse der wichtigsten Abmessungen von grund
legender Bedeutung. 2. Aesthetisch wirkungsvolle Linien
führungen erhält man durch einen möglichst starken
Wechsel der Krümmungsverhältnisse derart, daß der
Halbmesser der Krümmung an einzelnen Stellen groß,
an andern verhältnismäßig sehr klein gewählt wird unter
stetigem, nicht sprungweise sich vollziehendem Wechsel.
Je stärker die Krümmung an einer Stelle ist, um so
stärker wird diese Stelle ästhetisch hervorgehoben. 3. Die
grundlegenden Abmessungen des Gesamtentwurfes sind
so zu w'ählen, daß sie in möglichst einfachen Zahlen
verhältnissen zueinander stehen. 4. Den architektonischen
Schmuckteilen sind tunlichst neuzeitliche Formen zu
geben. Bei dem Entwerfen von Ingenieurbauten spielt
neben den zahlreichen rein sachlichen Erwägungen doch
Rathaus für Gönningen
Preisgekrönter Entwurf 1
Architekten Klatte & Weigle-Stuttgart
Zur Ausführung bestimmt