Full text: Bauzeitung für Württemberg, Baden, Hessen, Elsaß-Lothringen (1909)

13. März 1909 
BAUZEITUNG 
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Wettbewerb. II. Preis 
Ordnungen zerstört. In jenen paar Zahlen 
liegt auch der schlagende Nachweis, 
daß die Arbeiterschaft trotz aller wohl 
gemeinten U nfallverhütungsvorschriften 
gerade da, wo es auf persönliche Eigen 
schaften, auf Vorsicht, Besonnenheit 
und Geschicklichkeit ankommt, voll 
ständig versagt hat. 
Was nutzt es, wenn wir uns gegen 
seitig eine Wahrheit verhehlen, die alle 
kennen und die jeder sich scheut offen 
auszusprechen: die einfache Wahrheit, 
daß unsre Unfallverhütungsvorschriften 
den Arbeitern so gut wie unbekannt sind. 
Die große Masse weiß von ihnen, 
einzelne Ausnahmen abgerechnet, so 
wenig, als wenn sie irgendwo auf dem 
Monde erlassen worden wären. Man 
möge einmal in allen Fabriken ein 
Examen über den Inhalt der ünfall- 
verhütungsvorschriften abhalten, und 
man wird Wunderdinge erleben. Fragt 
man bei einer Betriebsbesichtigung den 
begleitenden Unternehmer oder Fabrikbeamten, ob 
denn die ünfallverhütungsvorschriften von den Arbeitern 
gelesen werden, so wird er, wenn er einigen Sinn für 
Humor hat, wahrscheinlich antworten, es sei noch niemals 
ein Gedränge vor den Unfall Verhütungsplakaten bemerkt 
worden. Regelmäßig begegnen wir aber jenem spöttischen, 
halb mitleidigen, halb belustigten Lächeln, das so vieles 
sagt, aber noch mehr verschweigt und das für die ganze 
Situation so außerordentlich bezeichnend ist. 
Ganz nutzlos ist es auch, angesichts dieser Tatsache 
über die Interesselosigkeit und Gleichgültigkeit der Ar 
beiter zu jammern. Als praktische Leute werden wir 
besser daran tun, das unangenehme Faktum gewisser 
maßen als eine Naturei’scheinung in Rechnung zu stellen 
und zu versuchen, seinen Ursachen menschlich näher zu 
kommen. Ich billige die Abneigung der Arbeiter, die 
Unfallverhütungsvorschriften kennen zu lernen, keines 
wegs, aber ich begreife sie. Niemand wird behaupten 
wollen, daß die Unfallverhütungsvorschriften eine an 
ziehende Lektüre bilden. Lange Paragraphenreihen tun 
das niemals. Auch nicht für den, der sich von Berufs 
wegen solcher Zwangslektüre hingeben muß. Und kein 
Mensch liest gern lange Paragraphenreihen stehend und 
mit zurückgebogenem Nacken. Das ist aber die Stellung, 
in der sie meistens gelesen werden müssen. Vor Beginn 
der Arbeit ist keine Zeit übrig, beim Fabrikschluß hat 
der Mann Eile, nach Hause oder in die Kneipe zu kommen, 
und während der Pausen wird er den Detektivroman 
des Wurstblättchens, in das sein Butterbrot eingewickelt 
war, immer noch interessanter finden als unsre Unfall 
verhütungsvorschriften. Ich wiederhole nochmals, ich 
billige das alles nicht, aber ich verstehe es. 
Nehmen wir nun einmal an, die Vorschriften würden 
von den Arbeitern wirklich gelesen. Es ist zehn gegen 
eins zu wetten, daß mindestens neunzig von hundert beim 
Lesen des achtunddreißigsten Paragraphen die vorhergehen 
den siebenunddreißig vergessen haben. Setzen wir aber 
sogar den idealen Fall, daß alle Arbeiter mit den Unfall 
verhütungsvorschriften genau bekannt wären und sie wie 
das Einmaleins am Schnürchen herunterplärren könnten. 
Würden dann die wunderbaren Wirkungen, die wir von 
diesem Idealzustande erwarten oder zu erwarten vorgeben, 
wirklich eintreten? Ich glaube nicht daran. Es ist ein 
Irrtum, zu wähnen, man könne durch Verordnungen, 
Verbote und Paragraphen den natürlichen Lauf der 
Dinge wesentlich beeinflussen. Der Hang zur Schematik 
und zum Reglementieren, der uns im Blute liegt, verleitet uns 
immer wieder dazu, die Tatsachen, die treibenden Kräfte und 
Zusammenhänge des wirklichen Lebens geringzuschätzen. 
Peter Petermann-Offenbach a. M. 
Wäre es nicht an der Zeit, einmal ernstlich danach 
zu fragen, ob nicht unsre Unfallverhütungsvorschriften 
heute schon zu umfangreich und mit zu vielem Einzel 
kram belastet sind? Gewisse einfache Normen lassen 
sich vielleicht nicht völlig entbehren, aber man sollte es 
sich sehr wohl überlegen, ehe man darüber hinaus detail 
lierte Bestimmungen trifft. In dem Berichte der Knapp 
schafts-Berufsgenossenschaft über die Zunahme der Un 
fälle wird mit Recht auf die wachsende Verordnungssucht 
hingewiesen, die die Arbeiter unselbständig macht und 
sie verleitet, alles für erlaubt zu halten, was nicht direkt 
verboten ist. Was erwartet man zum Beispiel von Be 
stimmungen wie den folgenden: „Beim Abwärtsfahren ist 
die Hemmvorrichtung sachgemäß zu betätigen.“ „Führer 
von Fuhrwerk dürfen während der Fahrt nicht schlafen.“ 
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