XI. Jahrgang
Nr. 14
Bauzeitung für Württemberg, Bad
Elsaß-Lothringen |
Stuttgart, 4. April 1914
Inhalt: Das Stuttgarter Ortsbaustatut. — Kirchliche Monumentalarchitektur in England. — Der mittlere TechnTR€f im hessischen Staats
dienst und sein Amtstitel. — Bericht über die XV. ord. Hauptversammlung des Deutschen Arbeitgeberbundes in Eisenach. — Vereins
mitteilungen. — Wettbewerbe. — Kleine Mitteilungen. — Personalien. — Sprechsaal.
Das Stuttgarter Ortsbaustatut
und die Abänderungsanträge der bürgerlichen Rathausfraktionen
Von Baurat Carl Heim
Die von den bürgerlichen Fraktionen zum Entwurf
des Ortsbaustatuts gestellten Abänderungsanträge haben
Anlaß zu eingehenden Erörterungen in der Presse und in
der Folge auch zu Protestversammlungen gegeben. Es
erscheint notwendig, daß zu diesem Entwurf des Ortsbau
statuts bez. zu den genannten Abänderungsanträgen das
Wort ergriffen wird, um den in die Versammlun
gen geschleuderten Vorwürfen entgegenzutreten, daß die
von den bürgerlichen Fraktionen gestellten Anträge ledig
lich im Interesse des Bodenspekulanten und des Hausbe
sitzers gestellt worden seien. Soweit das in den Versamm
lungen Gebotene aus Zeitungsnotizen beurteilt werden
kann, ist ohne weiteres zu erkennen, daß von einem Ein
dringen in die an und für sich natürlich nicht leichte Ma
terie nicht viel zu verspüren war, man begnügte sich mit
allgemeinen Protesten, man jammerte über das Häuser
meer der Stadt, man nahm Stellung in dem Sinn, „daß die
berechtigten Forderungen nach Licht und Luft, nach Siche
rung des Schönen im Stadtbild, nach Berücksichtigung der
Mieterschaft nicht um einseitiger Grundbesitzerinteressen
willen beiseite geschoben werden dürfen“. Man sprach
selbstredend vom Geburtenrückgang, einer ganz zeitge
mäßen Frage, konstatierte, daß diese seit „einigen Jahren“
auch in Deutschland beobachtete Erscheinung lediglich
auf die Mietskasernen zurückzuführen ist, obgleich diese
Großstadtkasernen seit „vielen Jahrzehnten“ schon stehen
und der Geburtenrückgang im gleichen Verhältnis auch auf
dem platten Lande auftritt. Man vergißt aber, daß ein
solcher auch dort auftritt, wo nach Mitteilung verschiede
ner Redner ganz einwandfreie Ortsbausatzungen bestehen,
— die Ursachen liegen natürlich ganz wo anders — über
das alles wird gesprochen, aber über die Abänderungs
anträge und deren Wirkung gegenüber der jetzt aufgestell
ten Mindestforderung wird nicht gesprochen, man ver
meidet es, sich mit dieser langweiligen Arbeit im Einzelnen
zu beschäftigen.
Es möge darauf hinzuweisen gestattet sein, daß so
viele, die jetzt die „Mindestforderungen“, d. h. die Vor
schläge der Kommission mit unterschreiben, diese vermut
lich so wenig kennen, wie die „Abänderungsanträge“
selbst und daß sie natürlich nicht wissen, daß die sozial
demokratische Rathausfraktion die Kommissionsbeschlüssc
deshalb jetzt als Mindestforderung aufstellt, weil Abände
rungsanträge von der bürgerlichen Seite eingelaufen sind.
Wären diese nicht gekommen, dann hätte die Sozialdemo
kratie mit demselben Ton sittlicher Entrüstung und mit
derselben agitatorischen Gewandtheit noch weitergehende
Anträge als ihre jetzigen Forderungen gestellt. Das wis
sen diejenigen genau, die mit diesen Herren in der Kom
mission gearbeitet haben. Es wird doch niemand glauben,
daß die Sozialdemokratie sich ein solches Zug- und Agi
tationsmittel entgehen läßt, umso mehr, als sie für diese
Aufgabe einen Führer hat, der ja bekanntlich als der „beste
Kenner“ auf besagtem sozialpolitischem Gebiet gepriesen
wird. Herr Dr. Lindemann ist der sozialdemokratische
Führer auf dem Rathaus.
Um auf weitere gegen die Kommissionsmitglieder er
hobenen Vorwürfe einzugehen, muß betont werden, daß
in keinem Parlament und in keinem Rathaus einzelne Mit
glieder einer Kommission gebunden sind, bei den Ver
handlungen später im Plenum unter allen Umständen für
die Beschlüsse der Kommission einzutreten. Die Kom
missionsverhandlungen gehen den Verhandlungen im
Plenum ohne vorgängige Fraktionsbesprechung voraus
und da die einzelnen Kommissionsmitglieder aller Partei
schattierungen niemals, insbesondere bei großen und
wichtigen Fragen mit gebundener Marschroute marschie
ren können, werden Abänderungsvorschläge bei den Ver
handlungen im Plenum immer wieder auftreten und sol
che dann von Kommissionsmitgliedern selbst oftmals wie
der vertreten werden müssen. Es ist unerhört, wenn ge
rade die Sozialdemokratie von Vergewaltigung oder gar