STUTTGART
I./15. Juni 1916
01TPKI
FÜR WÜRTTEMBERG
BADEN HESSEN*EL
SHSS- LOTHRINGEN*
Inhalt: Zum Wiederaufbau in Ostpreußen. — Kriegssteuern. — Grenzen der Sorg
faltspflicht des Unternehmers bei Aufstellung einer Maschine auf einem frei zugäng
lichen Platze. — Elektrisches Glockengeläute. — Vereinsmitteilungen. — Kleine
Mitteilungen. — Bücher.
Alle Rechte Vorbehalten.
Zum Wiederaufbau in Ostpreußen
Nachdem in der ersten Zeit nach Vertreibung der
Russen aus Ostpreußen ein Hauptaugenmerk auf Wieder
aufbau der landwirtschaftlichen Gebäude, Scheunen und
Ställe, gerichtet wurde, um dem Lande vor allem seine
wirtschaftliche Erholung, die für die Lebensmittelversorgung
nicht nur der eigenen sondern auch großer anderer Landes
teile Deutschlands von größter Bedeutung ist, zu ermög
lichen, geht man nun allenthalben auch an den Wiederaufbau
der Städte und der Wohn-, Gast-, Schulhäuser etc. auf
dem Lande. Die hier abgebildeten Entwürfe sind von
dem aus Achern in Baden stammenden Architekten B. D. A.
Alfred Kraemer, der es verstand, alte ostpreußische Tra
ditionen mit künstlerischer Eigenart zu verbinden und das
Wesen der etwas schwerfälligen, behäbigen aber arbeit
samen Landbevölkerung in seinen Bauten mitsprechen
zu lassen. Ein treffendes Beispiel hierfür ist das Projekt
zum Wiederaufbau des Gasthauses Lehnert in Kyschienen
bei Soldau. Fällt schon der strenge massige Giebel auf,
der durch verschiedene individuelle Entwicklungsphasen
aus den Staffelngiebeln der ostpreußischen Ordenszeit
entstanden ist, so ist noch besonders interessant, wie
der Künstler die Steigerung der wirtschaftlichen Ver
wendungsart des Gebäudekomplexes auch in der äußeren
Architektur zum Ausdruck bringt: Die Gebäudehöhe und
architektonische Entwicklung nimmt vom Schweinestall
zum Viehstall, zum Laden und Gasthaus immer mehr zu,
bis sie im Saalbau ihren Höhepunkt erreicht und in dem
dominierenden strengen Giebel ausktingt.
Ebenfalls für das Dorf Kyschienen bestimmt ist das
Wohnhausprojekt für den Besitzer Wippich. Der einfach
und klar angelegte Grundriß bringt die Wirtschaftsräume
auf die Seite des Wirtschaftshofes und die Wohn- und
Schlafräume nach dem Garten an der Dorfstraße. Von einer
nach Osten gelegenen geräumigen Veranda aus kann der
Besitzer auch in seinen Ruhestunden immer noch den
Betrieb auf dem Hofe übersehen. Die klaren gut pro
portionierten Fassaden sprechen von behäbiger Ruhe und
bürgerlichem Wohlstand. Der freundlichhelle Putzbau
bildet zu dem dunkeln Grün der ihn umgebendenjfgroßen
Bäume einen angenehmen Kontrast.
Eine nicht alltägliche Aufgabe war beim Wiederaufbau
zweier großer Stallgebäude mit einer Gesamtfrontlänge
von 68 m auf dem Rittergute des Herrn Wenzlawski in
Gajowken zu lösen. Diese beiden Gebäude, von denen
infolge Granatenbeschießung nur noch die ümfassungs-
wände stehen, waren so erbaut, daß sie sich gerade noch
mit einer Ecke diagonal berührten. Es galt nun, mit
Hilfe der neuen Dächer eine einheitliche Gruppe zu bilden.
Wiederaufbau des Gasthauses Lehnert in Kyschienen bei Soldau. Architekt B. D. A. Alfred Kraemer, Soldau.